„Olympische Spiele könnten die ganze Region begeistern und mitnehmen.“

Wolfram Eilenberger will als Stadtschreiber Ruhr vor allem die Transformationsprozesse der Region ergründen. Und dabei kluge Fragen zu Gegenwart und Zukunft stellen.
Ein Interview mit dem neuen Stadtschreiber Ruhr der Brost-Stiftung.
Näherte man sich dem neuen Stadtschreiber Ruhr nur auf dem Weg der aktuellen, omnipräsenten Debatte um die Klimarettung, stolperte man über den ziemlich großen CO2-Fußabdruck von Wolfgang Eilenberger (47). Gerade ist er aus Spanien zurückgekehrt, in den letzten acht Monaten flog er seinem Buch „Zeit der Zauberer“ nach Kroatien, Mexiko und China hinterher. Die Vorstellung des Bestsellers (wird derzeit in 20 Sprachen übersetzt) führt den Philosophieprofessor weiter nach Frankreich, zwischendurch hält es noch einen Vortrag auf dem renommierten Philosophikum in Lech, bevor er am 9. Oktober bei der Lit.Ruhr auf dem Podium sitzen wird (Zeche Zollverein, 19.30 Uhr). Dann beginnt auf Einladung der Brost-Stiftung die CO2-neutrale Stadtschreiberzeit.
„Viele Menschen haben mir von wunderschönen Fahrradwegen im Ruhrgebiet erzählt. Ein anderer Weg zur Entdeckung ist aber tatsächlich das Spazierengehen. Durch die Langsamkeit befördert Wandern die Präzision der Beobachtung“, so Eilenberger über seine Erkundungspläne. „Das Auto ist im Ruhrgebiet ein reines Problemmittel. Ich habe nicht vor, mich auf den Wahnsinn einzulassen!“
„Viele Menschen haben mir von wunderschönen Fahrradwegen im Ruhrgebiet erzählt. Ein anderer Weg zur Entdeckung ist aber tatsächlich das Spazierengehen. Durch die Langsamkeit befördert Wandern die Präzision der Beobachtung“, so Eilenberger über seine Erkundungspläne. „Das Auto ist im Ruhrgebiet ein reines Problemmittel. Ich habe nicht vor, mich auf den Wahnsinn einzulassen!“
Sie haben einmal gesagt, Philosophie hilft dabei, die richtigen Fragen zu stellen. Welche haben Sie an das Ruhrgebiet?
Eilenberger: „Es sind noch keine konkreten Fragen, eher habe ich eine konkrete Vorstellung von den Orten, die ich mir ansehen will. Wenn Sie sich mit einem vorgefassten Raster von Fragen einem Menschen nähern, laufen Sie Gefahr, ihn zu verfehlen. Besser ist es, sich einfach zu unterhalten, eher beiläufig, fußläufig sozusagen. Wenn man mit wachem Geist durch ein Gebiet streift, werden die Fragen schon kommen.“
Worauf sind Sie besonders gespannt?
Eilenberger: „Auf den rätselhaften Transformationsprozess, den die Region durchläuft und der dem gesamten Kontinent bevorsteht. Mich interessiert besonders das Wechselspiel zwischen Industrieregion und ökologischer Vielfalt. Ich möchte sehr viel über die Natur des Ruhrgebietes schreiben.“
„Das Ruhrgebiet ist in einer Beschreibung von sich selbst gefangen. Ziel der Stadtschreiberschaft muss es sein, daraus auszubrechen.“
Was Sie mit Transformationsprozess beschreiben, dominiert unter dem Begriff „Strukturwandel“ seit Jahren die politische und gesellschaftliche Debatte im Revier ...
Eilenberger: „Man erfasst die Transformation der Region nicht, wenn man nur 20 oder 30 Jahre zurückgeht. Das Ruhrgebiet ist für mich eine Transformationslandschaft der letzten 500 Millionen Jahre.
Was dort gefördert wurde, war Resultat des Aussterbens einer ganzen Vegetation, heute ist die Steinkohle ein absterbender Industriezweig. Jetzt zieht Kultur dort ein, wo früher die Industrie war. Man kann im Ruhrgebiet 200 oder 200.000 Jahre zurückgehen und immer wieder spannende Transformationsprozesse entdecken.“
Unterscheidet sich das Ruhrgebiet von anderen Regionen Deutschlands?
Eilenberger: „Es ist ein Ballungsraum in vielerlei Hinsicht, dadurch werden Probleme wie die Vernachlässigung der Infrastruktur, die typisch für das ganze Land ist, besonders offensichtlich.
Ich habe aber auch das Gefühl, dass vielerorts Lösungen für die tägliche Not gefunden wurden, Auswege aus der Alltagskatastrophe der Verkehrsproblematik. Es gibt einfallsreiche Menschen, die nicht nur klagen, sondern das Heft des Handelns in die eigenen Hände nehmen.“
„Ich versuche, die Nischen jenseits der klassischen Klischees und Vorurteile zu entdecken. Zum Beispiel in der Frage nach der Weiblichkeit des Ruhrgebietes. Staubverschmierte Bergleute kennt jeder, wo sind die Bilder der starken Frauen?“
Welche eigenen Erfahrungen verknüpfen Sie mit der Ruhrregion?
Eilenberger: „Die Assoziationsketten, die bei diesem Stichwort mobilisiert werden, fußen auf der Erfahrung eines Menschen, der in Süddeutschland aufgewachsen ist. Ich habe keinerlei persönliche Erfahrung im und mit dem Ruhrgebiet. Es ist ja eine Region, in die man als Deutscher nicht bevorzugt reist, um sie zu erkunden.
Ich weiß mehr über Mittelfinnland oder Ontario als über das Ruhrgebiet. Der Blick mit fremden und neugierigen Augen bringt einen zu einem unbefleckten Urteil, darin liegt der Reiz des neuen Amtes.“
Ich weiß mehr über Mittelfinnland oder Ontario als über das Ruhrgebiet. Der Blick mit fremden und neugierigen Augen bringt einen zu einem unbefleckten Urteil, darin liegt der Reiz des neuen Amtes.“
Sie werden es den Menschen nicht leicht machen, Ihren Streifzügen lesend zu folgen. Ihr Buch „Zeit der Zauberer“, in dem Sie den Lebens- und Denklinien von Ludwig Wittgenstein, Martin Heidegger, Walter Benjamin und Ernst Cassirer folgen, fordert ein hohes Maß an Aufmerksamkeit und Konzentration.
Eilenberger: „Erstens habe ich auch andere, leichter zugängliche Bücher geschrieben. Zweitens ist mir wichtig, dass die Stadtschreiberschaft kein elitäres Programm wird, auch wenn meine Arbeit philosophisch getränkt ist. Drittens darf Philosophie aber nicht zu einfach sein, sie ist eine Form der kontrollierten Überforderung.
Man kann Sprache und Gedanken so verwenden, dass auch Menschen, die zunächst Berührungsängste haben, am Ende sagen: So wie es hier dargestellt ist, finde ich es interessant und verstehe es auch.
Es ist ein gutes Gefühl, etwas gegenüber zu haben, das einen herausfordert. Man muss sich auch mal auf einen schwierigen Text einlassen, wenn man sich selbst als Leser wirklich ernst nimmt.“
Es ist ein gutes Gefühl, etwas gegenüber zu haben, das einen herausfordert. Man muss sich auch mal auf einen schwierigen Text einlassen, wenn man sich selbst als Leser wirklich ernst nimmt.“
„Das Ruhrgebiet ist wie ein schwieriges Buch. Ich bin sicher, dass ich vieles nicht verstehe und dass ich es, im übertragenen Sinne, mehrfach lesen muss, um es zu begreifen.“
Können Sie sich vorstellen, dass ein Großprojekt wie die Bewerbung um die Olympischen Spiele 2032 die Region voranbringt?
Eilenberger: „Ich glaube, dass ein großes übergreifendes Projekt sehr hilfreich sein kann im Transformationsprozess. Die Frage der Austragung olympischer Spiele, die bisher nur abstrakt im Raum steht, ist nicht mit Ja oder Nein zu beantworten. Es hinge entscheidend davon ab, wie man ein solches Ereignis ausgestaltet, wie man es organisch mit bestehenden Verhältnissen verbindet.“
Was müsste konkret passieren?
Eilenberger: „Eine künstlich aufgepfropfte Struktur, wie bei allen Spielen der jüngsten Vergangenheit, die langsam verwest und nicht weiter genutzt wird, ist für niemanden hilfreich. Aber ich glaube, dass ein Neuorientierungs- und Neufindungsprozess eines solchen Projektes eine ganze Region begeistern und mitnehmen kann.
Die spannende Frage lautet für mich: Was könnte das Ruhrgebiet der Olympischen Idee mitgeben? Könnten die Region und ihre Menschen Verwerfungen und Fehlentwicklungen, von denen die letzten Spiele begleitet waren, verhindern? Das Ruhrgebiet steckt mitten im Herzen des alten Europas. Mit diesem alten Europa muss etwas passieren, vielleicht kann das Ruhrgebiet da vorangehen.“
Die spannende Frage lautet für mich: Was könnte das Ruhrgebiet der Olympischen Idee mitgeben? Könnten die Region und ihre Menschen Verwerfungen und Fehlentwicklungen, von denen die letzten Spiele begleitet waren, verhindern? Das Ruhrgebiet steckt mitten im Herzen des alten Europas. Mit diesem alten Europa muss etwas passieren, vielleicht kann das Ruhrgebiet da vorangehen.“
Philosphie und Kabinenpredigt
Wolfram Eilenberger, geboren 1972, ist Philosoph, Publizist und Schriftsteller. Seine Leidenschaft ist die Anwendung philosophischer Gedanken auf die heutige Lebenswelt, sei es in Fragen der Politik, der Kultur oder des Sports. Er lebt mit seiner Frau Pia, einer ehemaligen finnischen Basketballnationalspielerin, und den beiden Kindern aktuell in Berlin, hatte in den letzten 15 Jahren berufsbedingt wechselnde Wohnsitze in Toronto oder Kopenhagen. Eilenberger: „Die Kinder werden nicht mit ins Ruhrgebiet kommen, sie stehen gerade im Abitur. Da ich aber viel schreibe, dafür Rückzug und Ruhe brauche, werde ich größere Teile des Jahres in Mülheim verbringen.“
Eilenberger erwarb einen DFB-Trainerschein (B-Lizenz) und schreibt seit 2015 die monatliche Fußballkolumne „Eilenbergers Kabinenpredigt“ auf ZEIT ONLINE. Darin mischte der bekennende Bayern-Fan 2015 schon einmal Borussia Dortmund mächtig auf, mit der Analyse, die Gestaltungskraft des aktuellen Welttrainers Jürgen Klopp sei verbraucht und der BVB der Hinrunde 2014/15 „kein Verein mehr, sondern eine Sekte. Und zwar mit allen klassischen Attributen: Artikulationsverbote, totale Gemeinschaftssuggestion, unbedingter Erlöserglaube.“
Kritisches Betrachten liege in der Natur seines Berufes, so begründet die Nr. 10 der deutschen Autorennationalmannschaft seinen Beitrag in der Rückschau. „Ein Philosoph legt den Finger auch einmal in die Wunde. Aber es ging nie gegen den Verein, sondern nur um eine gewisse Konstellation mit Jürgen Klopp als Trainer.“
Als Stadtschreiber möchte er sich aber aus dem Fußball heraushalten. „Das Ruhrgebiet ist mit Fußball überschrieben, in verschiedenster Bedeutung. Er ist in Städten wie Gelsenkirchen oder Dortmund von so zentraler Bedeutung, dass alle anderen Schönheiten oder Probleme überdeckt, ich möchte fast sagen zugekleistert werden.“
„Denkbilder“ möchte er von seinen Streifzügen sprachlich aufzeichnen, der Intention des Kulturkritikers Walter Benjamin folgend. „In diesen Denkbildern zeigt sich hoffentlich mehr als eine Momentaufnahme. Wenn es gut läuft, entsteht ein Album mit mehr als nur Momentaufnahmen, sondern mit Bildern, in denen sich die zeitliche Tiefe des Ruhrgebiets spiegeln lässt.“
Eilenberger erwarb einen DFB-Trainerschein (B-Lizenz) und schreibt seit 2015 die monatliche Fußballkolumne „Eilenbergers Kabinenpredigt“ auf ZEIT ONLINE. Darin mischte der bekennende Bayern-Fan 2015 schon einmal Borussia Dortmund mächtig auf, mit der Analyse, die Gestaltungskraft des aktuellen Welttrainers Jürgen Klopp sei verbraucht und der BVB der Hinrunde 2014/15 „kein Verein mehr, sondern eine Sekte. Und zwar mit allen klassischen Attributen: Artikulationsverbote, totale Gemeinschaftssuggestion, unbedingter Erlöserglaube.“
Kritisches Betrachten liege in der Natur seines Berufes, so begründet die Nr. 10 der deutschen Autorennationalmannschaft seinen Beitrag in der Rückschau. „Ein Philosoph legt den Finger auch einmal in die Wunde. Aber es ging nie gegen den Verein, sondern nur um eine gewisse Konstellation mit Jürgen Klopp als Trainer.“
Als Stadtschreiber möchte er sich aber aus dem Fußball heraushalten. „Das Ruhrgebiet ist mit Fußball überschrieben, in verschiedenster Bedeutung. Er ist in Städten wie Gelsenkirchen oder Dortmund von so zentraler Bedeutung, dass alle anderen Schönheiten oder Probleme überdeckt, ich möchte fast sagen zugekleistert werden.“
„Denkbilder“ möchte er von seinen Streifzügen sprachlich aufzeichnen, der Intention des Kulturkritikers Walter Benjamin folgend. „In diesen Denkbildern zeigt sich hoffentlich mehr als eine Momentaufnahme. Wenn es gut läuft, entsteht ein Album mit mehr als nur Momentaufnahmen, sondern mit Bildern, in denen sich die zeitliche Tiefe des Ruhrgebiets spiegeln lässt.“