Frau Lustiger sucht das Glück

Mit einem spannenden Projekt beendet die Stadtschreiberin ihren Aufenthalt im Ruhrgebiet
Während ihr Bestseller „Die Schuld der Anderen“ gerade mit der 9. Auflage seine Erfolgsgeschichte fortschreibt, geht für Gila Lustiger (55) der Lebensabschnitt „Stadtschreiberin Ruhr“ dem Ende zu. Nach einem Jahr im Revier kehrt die in Deutschland geborene Schriftstellerin zurück in ihre Wahlheimat Frankreich. Für das finale Kapitel hat sich die vielfach ausgezeichnete Autorin jedoch noch ein spannendes Projekt vorgenommen:
FRAU LUSTIGER SUCHT DAS GLÜCK
„Ich gehe auf Menschen zu, tippe ihnen auf die Schulter, lächle sie an, dann frage ich sie, wann sie das letzte Mal glücklich waren“, erklärt sie. In den letzten zwei Wochen hat Lustiger so bereits 50 Menschen aus dem Ruhrgebiet nach ihrem bewussten Glücksmoment ausgefragt, auf der Straße, im Schwimmbad, in der Kneipe. Am Ende sollen es 100 werden.
WAS IST FÜR DIE „RUHRIS“ GLÜCK?
Das Freibad
Ich frage sie, wer der Mann ist, den sie beide mit ihren Smartphones fotografieren. Und sie tippt ihrer Freundin auf die Schulter und sagt:„Dieser schöne Mann gehört ihr.“ „Und wo ist ihrer?“ „Der holt gerade Luft“, erwidert sie und lacht. Wir kommen ins Gespräch und ich erfahre, dass sie beide frisch verheiratet sind. Die eine seit zwei, die andere seit einem Jahr. Sie sind Cousinen oder ihre Männer Cousins, so genau verstehe ich es nicht. Die Babys, die im Kinderwagen im Schatten schlafen, sind ihre. „Wir passen auf sie auf, während unsere Männer für uns ins Becken springen“, sagt eine. Das Freibad wurde in den Sechzigern eröffnet. Solche Unterwasserfenster waren damals ein Kracher. Ich sage, als Kind hätte ich mit den Freundinnen vor solchen Fenstern stundenlang Handstandwettbewerbe gemacht. Dann frage ich, ob ich sie fotografieren darf. „Warum gerade uns?“, erkundigen sie sich überrascht. „Weil Sie glücklich aussehen“, sage ich. Sie lachen und willigen ein. „Ist das die Definition von Glück?“, frage ich, als ich ihnen das Foto zeige: „Frisch verheiratet zu sein, ein Kind zu haben und einen Mann, der für einen ins Becken springt?“ „Sie sehen mir wie eine aus, die weiß, was sie zu schreiben hat“, erwidert die junge Frau in blauem T-Shirt. Unbeachtet springt daneben ein junger Schwimmer ins Becken, um durch das Fenster nach draußen zu blicken. Er ist nicht mehr Kind und noch nicht erwachsen. Er springt wieder und immer wieder. Selbstvergessen und konzentriert. Auch er scheint glücklich. In ein paar Jahren wird zu seinem Glück vielleicht auch eine Frau gehören, der man zuwinken kann. Er weiß es noch nicht.


Zu jeder Glücksgeschichte hat sie ein oder mehrere Fotos der Befragten gemacht. Und sie mit feinsinnigen Kommentaren begleitet. Lustiger traf aber auch Menschen in schwierigen Lebensphasen. „Ich habe eine Frau im Jobcenter Essen nach ihrem Glückmoment gefragt. Sie erklärte mir, dass die Angst, ihre Wohnung zu verlieren, sie derzeit so zermürbe, dass sie nicht mehr in der Lage sei, etwas anderes wahrzunehmen als ihre Ängste. Zum Glück, selbst in kleinster Dosierung, gehört mindestens ein erträgliches Auskommen sowie Wertschätzung durch die Mitmenschen.“
Die Frau aus dem Jobcenter soll aber ebenso in der 100-Serie bleiben wie Begegnungen in Spielhalle oder Kleiderkammer. „Die Suche nach dem Glück verbindet uns. Wie wir uns ein gutes Leben vorstellen, das bestimmt aber auch unser Alter, unser Geschlecht, unsere Erziehung, unsere Wertvorstellung und unsere Lebensumstände.“
Mit dem Projekt will sie eine vertragliche Verpflichtung als Stadtschreiberin einlösen, „das Ruhrgebiet in all seinen Facetten“ künstlerisch abzubilden. Lustiger: „In all seinen Facetten heißt für mich mit all seinen Menschen.“ Während des für ein Jahr von der Brost-Stiftung finanzierten Aufenthaltes in Mülheim hat sie auch für einen Roman recherchiert, der später erscheinen soll.
Welche nachhaltigen Eindrücke nimmt sie aus dem Ruhrgebiet mit? „Ich bin heute in vielen meiner Gewissheiten erschüttert. Die Situation der Menschen ist oftmals so komplex, dass ich bei der Suche nach Lösungen gescheitert bin. Aber diese Ambivalenzen muss man aushalten können.“
Aber einige „Gewissheiten“ bleiben: „Strukturwandel ist mein persönliches Unwort des Jahres. Und am meisten bestürzt bin ich über die Verkitschung der früheren Arbeitswelt, vor allem des Bergbaus.“
In Kopf und Herz bleiben ihr die Menschen des Ruhrgebiets, viele von ihnen bezeichnet Gila Lustiger als „Helden des Alltags“. Warum? „Ich war in Stadtvierteln mit fast 50 Prozent Arbeitslosigkeit, in denen ein Großteil der Einwohner von Hartz IV lebt. Es würde alles zusammenbrechen ohne die Solidarität der Menschen und ihre Bereitschaft , sich für andere einzusetzen.“
Im September, wenn sie eine Hundertschaft von Ruhrgebietsbewohnern zu ihren Glücksmomenten ausgefragt hat, will sie zurück nach Paris, zur Familie, die sie sehr vermisst. Ihr Nachfolger im auf fünf Jahre angelegten Stadtschreiber-Projekt wird am 11. September auf dem Stiftungstag der Brost-Stiftung vorgestellt. Für ihn oder sie sicher ein echter Moment des Glücks...