Quellwasser vom Gipfel Uludag
Gila Lustiger
Als ich mir neulich in Duisburg-Marxloh in einem türkischen Supermarkt Wasser kaufte, dachte ich an meine Dose Meersalz aus der Guérande, mit der ich mir den Spott meiner Pariser Freunde zugezogen hatte. Ich hatte sie am Vorabend meiner Abreise zum Abendessen eingeladen. Wir standen scherzend im Flur, da entdeckte einer meine Dose Fleur de Sel.
„Schaut mal, was sie nach Mülheim schleppt, Salz!“, sagte einer und zog aus dem offenen Karton, in dem ich die letzten Dinge für den Umzug verstaut hatte, die Dose Fleur de Sel hervor.
„Bücher und Salz, damit kommt Sie nicht weit“, meinte ein Zweiter, der nun auch begonnen hatte in meinen Kartons herumzustöbern.
„Gibt es denn in Mülheim kein Salz?“, nahm der Erste seinen Witz wieder auf.
„Aber seht ihr denn nicht, dass sie ein kleines Stück Frankreich mitzunehmen wünscht?“, klärte meine Freundin Agathe die Runde schließlich auf.
Ja, manchmal ist Salz nicht nur Salz. Ein Auto nicht nur ein von einem Motor angetriebenes Fahrzeug. Ein Strauß Rosen mehr noch als ein paar Schnittblumen. Manchmal stellt man mit Hilfe von Konsumgütern seine Persönlichkeit dar. Dokumentiert man mit ihnen die Zugehörigkeit zu einer Gruppe. Quittiert man mit ihnen eine Freundschaft. Ja, manchmal erzählt man mit Dingen Geschichten.
Ich weiß, die Zeiten haben sich gewandelt. Ist man heute angekommen, inszeniert man seinen sozialen Aufstieg nicht mehr wie zu Mutters Wirtschaftswunderzeiten mit dem Erwerb einer neuen Nähmaschine oder einer Einbauküche. Als Kinder wurden meine Schwester und ich noch neben den Geschenken abfotografiert. In meinem Büro in Paris sind Fotos von uns beiden neben allen größeren Anschaffungen. Auch von meinem Sohn hat mein Vater, der die Entbehrungen des Krieges kannte, noch Fotos mit Dingen gemacht. Neben dem neuen Fahrrad, im neuen Kinderzimmer, vor dem zu Channukka geschenkten Computer ... Mein Mann und ich belächelten das, bis es uns mein Vater erklärte. Mein Sohn, der kleine Knirps, verstand meinen Vater auch intuitiv und ließ sich geduldig ablichten. Ich habe einmal mit Christa Wolf über die emotionale Kraft von Wörtern in ihren und den Texten von Heinrich Böll gesprochen, zu dessen Tod Sie einen Nachruf verfasst hatte. „Brot, Decke, Mantel, Dach“, sagte ich ihr, „bei Ihnen schwingen in diesen Worten noch die Erfahrungen des Kriegskindes mit.“ Brot, Decke, Mantel, Dach.
In Europa gibt es heute wieder Menschen, Armutsmigranten aus Osteuropa, die dieser elementaren Dinge entbehren. Sie haben zwar kein Dach, dafür aber oft ein Smartphone der neusten Generation. Viele empören sich darüber. Doch mit einem Smartphone hält man über WhatsApp oder Facebook den Kontakt mit der Familie und den Freunden aufrecht, übersetzt man mit Google Schilder, Briefe und Formulare, findet man über Maps auch in einer fremden Stadt den Weg. Smartphones sind für Armutsmigranten und Flüchtlinge kein Luxus, sondern ein existentieller Besitz.
Will ein gutsituierter Deutscher heute verdeutlichen, das er sich was leisten kann, so tut er dies nicht mehr mit Konsumgütern, sondern mit Erlebnissen. Die Reichen prahlen als Touristen. Sie schauen sich Brutstätten von Schildkröten auf den Seychellen an, entgiften im Himalaya, entspannen sich in der Wüste von...
Verstehen Sie mich nicht falsch. Dies ist kein Beitrag über muslimische Ess- oder Trinkgewohnheiten.
Und Sie werden mich jetzt bestimmt nicht die erste Strophe des Liedes „Willkommen” des türkischen Musikers Cem Karaca anstimmen hören: „Komm Türke, trinke deutsches Bier, dann bist du auch willkommen hier. Mit ,Prost' wird Allah abserviert, und du ein Stückchen integriert.”
Dieses Lied, dass Karaca vor über dreißig Jahren über Integration und Willkommenskultur in Deutschland komponiert hat, ist heute leider aktueller denn je. Die zweiten Strophe des Liedes: „Ihr stinkt nach Knoblauch – lasst den weg, esst Sauerkraut mit Schweinespeck”, könnte man einigen europäischen Politikern direkt in den Mund legen.
In Frankreich wütet derzeit die sogenannte „Schweinefleischdebatte”, die regelrecht zu einer Grundsatzdebatte aufgebauscht wird. Politiker verteidigen allen Ernstes das Schweineschnitzel, als gehe es um ihre Grundfreiheiten. Marine Le Pen verlangt seit Jahren so vehement, Schweinefleisch in Schulkantinen einzuführen, dass man meinen könnte, dies sei Frankreichs größtes Problem. (Und das bei einer Arbeitslosenquote von 10 Prozent.) Hört man sich ihren Diskurs jedoch einmal genauer an, so versteht man sofort, dass sie nicht französischen „kulinarischen Freiheiten” zu verteidigen, sondern Muslime auszugrenzen wünscht. Impliziert schwingt in all diesen Diskussionen immer wieder die alte Furcht der Überfremdung mit, die die Redewendung „Man reicht den kleinen Finger, und er nimmt die ganze Hand”, so perfekt auf den Punkt bringt. Jedoch, wie kann denn eine Gesellschaft, die sich ihrer Grundwerte gewiss ist, von einem Kopftuch oder einer Kippa verunsichern lassen oder durch ein Produkt, das halal ist oder kosher?
Ich zahlte meine Wasserflasche, dann ging ich aus dem Supermarkt und blickte mich um. Auf dem Gehweg lagen Sonderangebote der angrenzenden Geschäfte aus. Pullis für 5 Euro 99. Düfte für 3 Euro das Fläschchen. Ein orangefarbenes Reisemobil hielt vor Woolworth und sofort traten ein paar Männer auf den Wagen zu. Sie hatten rauchend auf dem Bürgersteig gewartet und ich erfuhr, nachdem ich zögernd nachgefragt hatte, dass sie Hilfe beim Ausfüllen von Anträgen bekamen und etwas Warmes zu trinken. Ein älteres Paar ging an mir vorbei zur Post, und ich wusste nicht, wer sich an wem festhielt. Ein etwa vierjähriges Kind bettelte, wurde in das rot-gelbe Plastikmotorrad am Eingang eines Discountladens gesetzt. Die verschleierte Mutter suchte im Geldbeutel nach einer Münze und warf sie in den Schlitz. Vor Schlüter's Backstube setzten sich vier ältere Damen an einen Tisch und bestellten Cappuccino. Im Imbissstand daneben reichte der Koch einem jungen Paar den Dönerteller mit Pommes, Salat und Cola entgegen, während ein Bus hielt und eine Gruppe Schüler lachend in den Tag trat. Ich ging auf den August-Bebel-Platz zu. Eigentlich war ich nach Marxloh gekommen, weil ich im Internet gelesen hatte, dass dort am Montag Markttag war und ich mir frisches Obst und Gemüse aus der Region hatte kaufen wollen. Doch dort wurden nur Textilien, Schuhe und Haushaltswaren angeboten.
Ich fragte eine ältere Frau: „Wo finde ich denn hier einen Geldautomaten?“
Sie blickte auf eine jüngere, die ihr meine Frage übersetzte, dann lächelte sie mich an und zuckte mit den Schultern.
„Sprechen Sie Rumänisch?“, fragte ich.
„Bulgarisch“, gab mir die Jüngere zur Antwort.
Ich öffnete meine Flasche und trank, umgeben von Frauen mit Kinderwagen, rauchenden Männern und einer Horde spielender Kinder unter einem tiefen, grauen Himmel. Erikli, das Quellwasser vom Gipfel von Uludag. Wie schön hörte sich das an. Nach verschneiten Aufstiegswegen und unberührten Landschaften. Das Quellwasser wurde für die Firma Leto in Gelsenkirchen abgefüllt. Man hätte auf der Flasche auch Schloss Horst oder den Arena-Park abbilden können. Aber nur mit den verschneiten Gipfeln des Uludags bekam die Flasche ihren tieferen Sinn. Hier tranken, Menschen Tag für Tag ein Schlückchen Heimat, vermutete ich, und sofort viel mir das Interview der Kanzlerin ein, indem sie die Türkischstämmigen aufforderte, Deutschland als ihre Heimat zu erachten.
„Von den Türkischstämmigen, die schon lange in Deutschland leben, erwarten wir, dass sie ein hohes Maß an Loyalität zu unserem Land entwickeln", hatte Angela Merkel mit Blick auf die Anhänger des türkischen Präsidenten Erdogan reklamiert und beschwichtigend hinzugefügt: „Dafür versuchen wir, für ihre Anliegen ein offenes Ohr zu haben und sie zu verstehen. Und dafür halten wir auch engen Kontakt mit den Migrantenverbänden."
Als ich mir neulich in Duisburg-Marxloh in einem türkischen Supermarkt Wasser kaufte, dachte ich an meine Dose Meersalz aus der Guérande, mit der ich mir den Spott meiner Pariser Freunde zugezogen hatte. Ich hatte sie am Vorabend meiner Abreise zum Abendessen eingeladen. Wir standen scherzend im Flur, da entdeckte einer meine Dose Fleur de Sel.
„Schaut mal, was sie nach Mülheim schleppt, Salz!“, sagte einer und zog aus dem offenen Karton, in dem ich die letzten Dinge für den Umzug verstaut hatte, die Dose Fleur de Sel hervor.
„Bücher und Salz, damit kommt Sie nicht weit“, meinte ein Zweiter, der nun auch begonnen hatte in meinen Kartons herumzustöbern.
„Gibt es denn in Mülheim kein Salz?“, nahm der Erste seinen Witz wieder auf.
„Aber seht ihr denn nicht, dass sie ein kleines Stück Frankreich mitzunehmen wünscht?“, klärte meine Freundin Agathe die Runde schließlich auf.
Ja, manchmal ist Salz nicht nur Salz. Ein Auto nicht nur ein von einem Motor angetriebenes Fahrzeug. Ein Strauß Rosen mehr noch als ein paar Schnittblumen. Manchmal stellt man mit Hilfe von Konsumgütern seine Persönlichkeit dar. Dokumentiert man mit ihnen die Zugehörigkeit zu einer Gruppe. Quittiert man mit ihnen eine Freundschaft. Ja, manchmal erzählt man mit Dingen Geschichten.
Ich weiß, die Zeiten haben sich gewandelt. Ist man heute angekommen, inszeniert man seinen sozialen Aufstieg nicht mehr wie zu Mutters Wirtschaftswunderzeiten mit dem Erwerb einer neuen Nähmaschine oder einer Einbauküche. Als Kinder wurden meine Schwester und ich noch neben den Geschenken abfotografiert. In meinem Büro in Paris sind Fotos von uns beiden neben allen größeren Anschaffungen. Auch von meinem Sohn hat mein Vater, der die Entbehrungen des Krieges kannte, noch Fotos mit Dingen gemacht. Neben dem neuen Fahrrad, im neuen Kinderzimmer, vor dem zu Channukka geschenkten Computer ... Mein Mann und ich belächelten das, bis es uns mein Vater erklärte. Mein Sohn, der kleine Knirps, verstand meinen Vater auch intuitiv und ließ sich geduldig ablichten. Ich habe einmal mit Christa Wolf über die emotionale Kraft von Wörtern in ihren und den Texten von Heinrich Böll gesprochen, zu dessen Tod Sie einen Nachruf verfasst hatte. „Brot, Decke, Mantel, Dach“, sagte ich ihr, „bei Ihnen schwingen in diesen Worten noch die Erfahrungen des Kriegskindes mit.“ Brot, Decke, Mantel, Dach.
In Europa gibt es heute wieder Menschen, Armutsmigranten aus Osteuropa, die dieser elementaren Dinge entbehren. Sie haben zwar kein Dach, dafür aber oft ein Smartphone der neusten Generation. Viele empören sich darüber. Doch mit einem Smartphone hält man über WhatsApp oder Facebook den Kontakt mit der Familie und den Freunden aufrecht, übersetzt man mit Google Schilder, Briefe und Formulare, findet man über Maps auch in einer fremden Stadt den Weg. Smartphones sind für Armutsmigranten und Flüchtlinge kein Luxus, sondern ein existentieller Besitz.
Will ein gutsituierter Deutscher heute verdeutlichen, das er sich was leisten kann, so tut er dies nicht mehr mit Konsumgütern, sondern mit Erlebnissen. Die Reichen prahlen als Touristen. Sie schauen sich Brutstätten von Schildkröten auf den Seychellen an, entgiften im Himalaya, entspannen sich in der Wüste von...
Zeichen der Zugehörigkeit
Aber zurück zu meiner Wasserflasche. Plötzlich, während ich meine Wasserflasche kaufte, bemerkte ich, dass ich mich in einem Supermarkt aufhielt, der sich auch ebenso gut in einer Einkaufsstraße in Istanbul hätte befinden können. Sogar eher noch in Instanbul als in Duisburg. Die Produkte, die Verpackungen, die bunten Farben, die Beschriftungen, die Kunden ... Nichts, aber auch wirklich nichts, verwies darauf, dass ich mich in einem Geschäft im Ruhrgebiet befand. Hier ist einkaufen nicht bloß einkaufen, dachte ich, sondern eine kulturelle Tätigkeit. Vielleicht war es den meisten Käufern nicht so richtig bewusst, ja, vielleicht hatten sie sich über ihre Gewohnheiten noch nie wirklich den Kopf zerbrochen-, und doch signalisierten sie selbst mit dem Kauf einer einzigen Wasserflasche, zu welchem kulturellen Kreis sie dazugehörten. Können Waren Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe anzeigen? Ja, das können Sie. Und manchmal dienen sie auch dazu, sich der eigenen Zugehörigkeit zu versichern.Verstehen Sie mich nicht falsch. Dies ist kein Beitrag über muslimische Ess- oder Trinkgewohnheiten.
Und Sie werden mich jetzt bestimmt nicht die erste Strophe des Liedes „Willkommen” des türkischen Musikers Cem Karaca anstimmen hören: „Komm Türke, trinke deutsches Bier, dann bist du auch willkommen hier. Mit ,Prost' wird Allah abserviert, und du ein Stückchen integriert.”
Dieses Lied, dass Karaca vor über dreißig Jahren über Integration und Willkommenskultur in Deutschland komponiert hat, ist heute leider aktueller denn je. Die zweiten Strophe des Liedes: „Ihr stinkt nach Knoblauch – lasst den weg, esst Sauerkraut mit Schweinespeck”, könnte man einigen europäischen Politikern direkt in den Mund legen.
In Frankreich wütet derzeit die sogenannte „Schweinefleischdebatte”, die regelrecht zu einer Grundsatzdebatte aufgebauscht wird. Politiker verteidigen allen Ernstes das Schweineschnitzel, als gehe es um ihre Grundfreiheiten. Marine Le Pen verlangt seit Jahren so vehement, Schweinefleisch in Schulkantinen einzuführen, dass man meinen könnte, dies sei Frankreichs größtes Problem. (Und das bei einer Arbeitslosenquote von 10 Prozent.) Hört man sich ihren Diskurs jedoch einmal genauer an, so versteht man sofort, dass sie nicht französischen „kulinarischen Freiheiten” zu verteidigen, sondern Muslime auszugrenzen wünscht. Impliziert schwingt in all diesen Diskussionen immer wieder die alte Furcht der Überfremdung mit, die die Redewendung „Man reicht den kleinen Finger, und er nimmt die ganze Hand”, so perfekt auf den Punkt bringt. Jedoch, wie kann denn eine Gesellschaft, die sich ihrer Grundwerte gewiss ist, von einem Kopftuch oder einer Kippa verunsichern lassen oder durch ein Produkt, das halal ist oder kosher?
Ich zahlte meine Wasserflasche, dann ging ich aus dem Supermarkt und blickte mich um. Auf dem Gehweg lagen Sonderangebote der angrenzenden Geschäfte aus. Pullis für 5 Euro 99. Düfte für 3 Euro das Fläschchen. Ein orangefarbenes Reisemobil hielt vor Woolworth und sofort traten ein paar Männer auf den Wagen zu. Sie hatten rauchend auf dem Bürgersteig gewartet und ich erfuhr, nachdem ich zögernd nachgefragt hatte, dass sie Hilfe beim Ausfüllen von Anträgen bekamen und etwas Warmes zu trinken. Ein älteres Paar ging an mir vorbei zur Post, und ich wusste nicht, wer sich an wem festhielt. Ein etwa vierjähriges Kind bettelte, wurde in das rot-gelbe Plastikmotorrad am Eingang eines Discountladens gesetzt. Die verschleierte Mutter suchte im Geldbeutel nach einer Münze und warf sie in den Schlitz. Vor Schlüter's Backstube setzten sich vier ältere Damen an einen Tisch und bestellten Cappuccino. Im Imbissstand daneben reichte der Koch einem jungen Paar den Dönerteller mit Pommes, Salat und Cola entgegen, während ein Bus hielt und eine Gruppe Schüler lachend in den Tag trat. Ich ging auf den August-Bebel-Platz zu. Eigentlich war ich nach Marxloh gekommen, weil ich im Internet gelesen hatte, dass dort am Montag Markttag war und ich mir frisches Obst und Gemüse aus der Region hatte kaufen wollen. Doch dort wurden nur Textilien, Schuhe und Haushaltswaren angeboten.
Ich fragte eine ältere Frau: „Wo finde ich denn hier einen Geldautomaten?“
Sie blickte auf eine jüngere, die ihr meine Frage übersetzte, dann lächelte sie mich an und zuckte mit den Schultern.
„Sprechen Sie Rumänisch?“, fragte ich.
„Bulgarisch“, gab mir die Jüngere zur Antwort.
Ich öffnete meine Flasche und trank, umgeben von Frauen mit Kinderwagen, rauchenden Männern und einer Horde spielender Kinder unter einem tiefen, grauen Himmel. Erikli, das Quellwasser vom Gipfel von Uludag. Wie schön hörte sich das an. Nach verschneiten Aufstiegswegen und unberührten Landschaften. Das Quellwasser wurde für die Firma Leto in Gelsenkirchen abgefüllt. Man hätte auf der Flasche auch Schloss Horst oder den Arena-Park abbilden können. Aber nur mit den verschneiten Gipfeln des Uludags bekam die Flasche ihren tieferen Sinn. Hier tranken, Menschen Tag für Tag ein Schlückchen Heimat, vermutete ich, und sofort viel mir das Interview der Kanzlerin ein, indem sie die Türkischstämmigen aufforderte, Deutschland als ihre Heimat zu erachten.
„Von den Türkischstämmigen, die schon lange in Deutschland leben, erwarten wir, dass sie ein hohes Maß an Loyalität zu unserem Land entwickeln", hatte Angela Merkel mit Blick auf die Anhänger des türkischen Präsidenten Erdogan reklamiert und beschwichtigend hinzugefügt: „Dafür versuchen wir, für ihre Anliegen ein offenes Ohr zu haben und sie zu verstehen. Und dafür halten wir auch engen Kontakt mit den Migrantenverbänden."
- Gemäß Einwohnerstatistik der Stadt Duisburg waren Ende 2016 10.785 oder 52,8 Prozent der Einwohner Marxlohs Ausländer ohne deutschen Pass. Heute stellen Menschen mit Migrationshintergrund, vorwiegend Zuwanderer aus Südosteuropaund der Türkei, 64 Prozent der Bevölkerung.
- Mitte der 1990er Jahre haben mehr und mehr türkischstämmige Bürger auf der Weseler Straße Geschäfte eröffnet. In den 2000er Jahren kristallisierten sich als Schwerpunkte Brautmode, Abendmode und Juweliergeschäfte heraus. Heute gilt die Weseler Straße als die Hochzeitsmeile Deutschlands
- Im Juli 2015 warnte die Polizei Nordrhein-Westfalen vor No-Go-Areas und rechtsfreien Räumen, da die öffentliche Ordnung und Sicherheit durch die Bildung von Großfamilien-Clans „akut gefährdet“ und „langfristig nicht gesichert“ sei. Anwohner und Geschäftsleute trauten sich aus Angst nachts nicht mehr auf die Straße. Die Polizeipräsenz wurde aufgrund der Situation erhöht.
Wann gehört jemand dazu?
Sind die Einwohner von Marxloh jene Türkischstämmige, deren Loyalität zu Deutschland eingefordert wird, überlegte ich mir. Aller Wahrscheinlichkeit nach. Aber wieso brauchten wir denn Migrantenverbände, um uns mit Menschen zu verständigen, die schon lange in Deutschland lebten? Und wen genau meinten wir mit wir? Ja, wer genau waren wir, die wir vorgaben, ein offenes Ohr für die Anliegen der Anderen zu haben? Und ab wann gehörte man zur Mehrheitsgesellschaft dazu?Am Abend las ich mich durch die Statistiken. Rund 3,5 Millionen türkischstämmige Menschen leben heute in Deutschland. Davon sind 1,6 Millionen türkische Staatsangehörige. 1, 5 Millionen zugewandert und 490.000 Personen sind in Deutschland geboren. Ich suchte nach der Information, für die ich mich interessierte. Ja, ich gebe es gerne zu, ich interessierte mich nicht für Religion, das Kopftuch, religiöse Selbsteinschätzung, Geschlechterrollen, sondern für soziale Mobilität. Ich fand die Daten des statistischen Bundesamtes relativ schnell: 2013 waren 42 Prozent der türkischstämmigen Menschen Arbeiter, 14 Prozent Facharbeiter, 21 Prozent einfache Angestellte, 12 Prozent mittlere Angestellte, 9 Prozent hatten sich selbstständig gemacht. Nur magere 2 Prozent hatten es in die höhere Angestelltenposition geschafft.
In einem Bericht des Bundesbildungsministeriums fand ich folgende Angaben: 14 Prozent der Schüler aus türkischstämmigen Familien machen in Deutschland Abitur. Fast 20 Prozent haben keinen Schulabschluss. Auch eine Studie der Böckler-Stiftung bezeugte, dass für Türken ein dreimal so hohes Risiko wie für Deutsche bestand, keinen Job zu finden. Und laut einer Studie der Bundesagentur für Arbeit, die ich ebenfalls heranzog, lebten 22 Prozent der Türken in Deutschland von Sozialhilfe. Wer glaubt, das hätte etwas mit Genetik, Kultur oder Religion zu tun, der täuscht. In kaum einem Land hängt Bildung so stark von der Herkunft ab wie in Deutschland. Arme Kinder haben laut OECD Studie, selten eine Aufstiegschance.
Wie stand es mit dem Aufenthaltsstatus der Türken in Deutschland? Ich gestehe es gerne ein, ich verbrachte zwar einen ganzen Abend damit, aber verstehe immer noch nicht die kleinen feinen Unterschied …
…zwischen unbefristeter Aufenthaltserlaubnis und Aufenthaltsberechtigung. Zwischen Niederlassungserlaubnis und befristetem Aufenthaltsrecht. Zwischen Aufenthaltstitel und Aufenthaltsstatus.
Zwischen Duldung ohne rechtmäßigen Aufenthalt, aber mit einem faktischen Bleiberecht, und Aufenthaltsgestattung für die Dauer eines nicht abgeschlossenen Asylerstverfahrens.
Zwischen Aufenthaltsgenehmigung in Form der Aufenthaltserlaubnis und Aufenthaltsbewilligung.
Zwischen Aufenthaltsbefugnis und unbefristeter Niederlassungserlaubnis. Zwischen befristeter Aufenthaltserlaubnis nach dem Aufenthaltsgesetz zum Zwecke der Ausbildung und befristete Aufenthaltserlaubnis aus humanitären oder aus familiären Gründen.
Irgendwann zwischen Mitternacht und ein Uhr morgens gab ich es dann auf, putzte mir die Zähne und ging erschöpft ins Bett.
So richtig angekommen schienen mir diejenigen, die in den 1960ern als Gastarbeiter zu uns gekommen waren - wir nannten sie als Kinder damals „die Türken“ -, ja, so richtig angekommen, schienen sie und ihre Nachkommen mir bis heute immer noch nicht zu sein, zumindest nicht aus rechtlicher Sicht.
„Warum wollen Sie das wissen?“
„So gut schmeckt das Wasser nun wirklich nicht.“
„Na, dann kaufen Sie es doch nicht“, gab der Kassierer schulterzuckend zur Antwort.
Wir kamen ins Gespräch. Der Supermarkt gehörte seinen Schwiegereltern. Seine Eltern stammten aus der Türkei. Er selbst war in Deutschland geboren, hatte hier Abitur gemacht und Betriebswirtschaft studiert. Er war Deutscher, aber nur, wie er mir gestand, um nicht wie seine Frau tagelang in den Behörden sitzen zu müssen. Gewählt habe er AfD. Als Protest.
„Aber das geht doch nicht!“, erwiderte ich verwirrt.
„Wieso denn nicht?“
„Die fordern doch einen Einreisestopp für Muslime.“
Laut Umfrage, konterte er, habe jeder dritte AfD -Wähler einen Migrationshintergrund.
Am Nachmittag traf ich mich mit einem Historiker, der in Marxloh das Zusammenleben von neuen Einwanderern und Alteingesessenen untersucht hatte. Wir saßen in einem türkischen Café in der Weseler Straße, jener Hochzeitsmeile, in der Brautmodeläden, Schmuck- und Schuhgeschäfte türkische Bräute aus ganz Deutschland, den Niederlanden und Belgien anziehen. Wir tranken Tee und ich erfuhr etwas über rumänische Roma und bulgarische Türken, über ihre alltäglichen Erfahrungen von Diskriminierung, über die Überforderungen der Kommunen, über marode Bausubstanz, korrupte Vermieter, Armut und Kriminalität, über Arbeitslosengeld oder andere Transferleistungen vom Staat ...
Die Ablehnung der Neubürger, so erklärte mir mein Gegenüber, schaffe das verbindende Element zwischen deutschen und türkischstämmigen Alteingesessenen.
So, so, dachte ich, hier haben wir es nun endlich, das berühmte Wir-Gefühl.
…zwischen unbefristeter Aufenthaltserlaubnis und Aufenthaltsberechtigung. Zwischen Niederlassungserlaubnis und befristetem Aufenthaltsrecht. Zwischen Aufenthaltstitel und Aufenthaltsstatus.
Zwischen Duldung ohne rechtmäßigen Aufenthalt, aber mit einem faktischen Bleiberecht, und Aufenthaltsgestattung für die Dauer eines nicht abgeschlossenen Asylerstverfahrens.
Zwischen Aufenthaltsgenehmigung in Form der Aufenthaltserlaubnis und Aufenthaltsbewilligung.
Zwischen Aufenthaltsbefugnis und unbefristeter Niederlassungserlaubnis. Zwischen befristeter Aufenthaltserlaubnis nach dem Aufenthaltsgesetz zum Zwecke der Ausbildung und befristete Aufenthaltserlaubnis aus humanitären oder aus familiären Gründen.
Irgendwann zwischen Mitternacht und ein Uhr morgens gab ich es dann auf, putzte mir die Zähne und ging erschöpft ins Bett.
So richtig angekommen schienen mir diejenigen, die in den 1960ern als Gastarbeiter zu uns gekommen waren - wir nannten sie als Kinder damals „die Türken“ -, ja, so richtig angekommen, schienen sie und ihre Nachkommen mir bis heute immer noch nicht zu sein, zumindest nicht aus rechtlicher Sicht.
Die Suche nach dem Wir-Gefühl
Ich ging am nächsten Tag in einen anderen türkischen Supermarkt in Marxloh. Jetzt wollte ich es wirklich wissen. Auch dort fand ich nur türkische Produkte vor. Ich kaufte reife, gelbe Zitronen und Erikli, mein Quellwasser vom Gipfel von Uludag. Als ich das Wechselgeld entgegennahm fragte ich: „Wieso führen Sie denn alle immer nur Erikli?“„Warum wollen Sie das wissen?“
„So gut schmeckt das Wasser nun wirklich nicht.“
„Na, dann kaufen Sie es doch nicht“, gab der Kassierer schulterzuckend zur Antwort.
Wir kamen ins Gespräch. Der Supermarkt gehörte seinen Schwiegereltern. Seine Eltern stammten aus der Türkei. Er selbst war in Deutschland geboren, hatte hier Abitur gemacht und Betriebswirtschaft studiert. Er war Deutscher, aber nur, wie er mir gestand, um nicht wie seine Frau tagelang in den Behörden sitzen zu müssen. Gewählt habe er AfD. Als Protest.
„Aber das geht doch nicht!“, erwiderte ich verwirrt.
„Wieso denn nicht?“
„Die fordern doch einen Einreisestopp für Muslime.“
Laut Umfrage, konterte er, habe jeder dritte AfD -Wähler einen Migrationshintergrund.
Am Nachmittag traf ich mich mit einem Historiker, der in Marxloh das Zusammenleben von neuen Einwanderern und Alteingesessenen untersucht hatte. Wir saßen in einem türkischen Café in der Weseler Straße, jener Hochzeitsmeile, in der Brautmodeläden, Schmuck- und Schuhgeschäfte türkische Bräute aus ganz Deutschland, den Niederlanden und Belgien anziehen. Wir tranken Tee und ich erfuhr etwas über rumänische Roma und bulgarische Türken, über ihre alltäglichen Erfahrungen von Diskriminierung, über die Überforderungen der Kommunen, über marode Bausubstanz, korrupte Vermieter, Armut und Kriminalität, über Arbeitslosengeld oder andere Transferleistungen vom Staat ...
Die Ablehnung der Neubürger, so erklärte mir mein Gegenüber, schaffe das verbindende Element zwischen deutschen und türkischstämmigen Alteingesessenen.
So, so, dachte ich, hier haben wir es nun endlich, das berühmte Wir-Gefühl.