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Historische Tiefenbohrung ins Ruhrgebiet

Metropolenschreiber Per Leo will den Menschen der Region mit präzisem Einblick in ihre Geschichte den Spiegel vorhalten

13. Juli 2022

Zwischen Revierromantik und harter Maloche liegen bei Per Leo ziemlich genau zwei Stockwerke. Im Erdgeschoss des Metropolenschreiber-Domizils in Mülheim schmückt eine Schneekugel mit der Zeche Zollverein den Tisch, im Dachzimmer (genannt Adlerhorst) arbeitet der Schriftsteller und promovierte Historiker täglich mehrere Stunden an seinem neuen Roman.

„Zu einem Drittel ist das Manuskript fertig“, so Leo, der sich als sehr disziplinierten Autoren beschreibt. Nach dem mehrfach ausgezeichneten Roman „Flut und Boden“ sowie dem von ihm mitverfassten Buch „Mit Rechten reden“, das medial Aufsehen erregte, handelt die aktuelle Geschichte von einem betrügerischen Geigenhändler. „Ich recherchiere schon seit Jahren an dem authentischen Fall. Nachdem zunächst ein erzählerisches Sachbuch geplant war, entsteht nun eine fiktive Story.“

Gleichzeitig trägt er für einen Buchessay über die „Essener Schule“ Material zusammen, den er als Ergebnis seiner Metropolenschreiber-Zeit veröffentlichen möchte. Der Begriff beschreibt eine an der Universität Essen entwickelte Methode der Geschichtsforschung. Als Historiker und Hochschulprofessor beschäftigte sich Lutz Niethammer mit deutscher Zeitgeschichte auf der Grundlage der Befragung von Zeitzeugen. Dieser als „Oral History“ bezeichnete Forschungsansatz betrachtet Geschichtsschreibung primär aus dem Blickwinkel bestimmter Milieus.

"Nebeneinander von extremer Ruppigkeit und Freundlichkeit"

Leo: „Ich mache als Metropolenschreiber keine Aussagen über das Ruhrgebiet, sondern erzähle eine Geschichte aus dem Ruhrgebiet. Man kann es als eine historische Tiefenbohrung bezeichnen.“

In deren Mittelpunkt steht ein, von dem Historiker Michael Zimmermann, betreutes Forschungsprojekt über die Verfolgung der Sinti und Roma im Dritten Reich. Mangels fehlender schriftlicher Quellen bemühte Zimmermann, u.a. durch Befragung von Zeitzeugen, den so genannten „Parajmos“, die Verfolgung von Roma als „Zigeuner“ im Nationalsozialismus zu beleuchten. Am Ende scheiterte das Projekt aus verschiedenen Gründen, die Per Leo erhellen und zum Thema seines Textes machen will. Leo: „Es ist jedenfalls kein Zufall, dass die Geschichte ihren Ausgang im Ruhrgebiet nahm.“

Für ihn ist die Region durch Ambivalenz und Widersprüche gekennzeichnet. „Es gibt nicht das Ruhrgebiet. Die Städte Bochum, Gelsenkirchen oder Duisburg etwa vermitteln ein ausgeprägtes Lokalgefühl. Wenn ich aber hier in Mülheim zum Joggen gehe, lande ich meist in Duisburg. Beim Einkaufen überlege ich, ob ich schneller in Essen oder in Düsseldorf bin.“

„Das Ruhrgebiet war einmal wie Silicon Valley“

Ebenso widersprüchlich wie die Region erlebt er ihre Menschen: „Es ist ein Nebeneinander von extremer Ruppigkeit und großer Freundlichkeit. Auffällig für mich als Berliner ist die fehlende Eitelkeit, die Menschen hier sind wenig offensiv in ihrer Selbstdarstellung.“

Zu welcher Art von Geschichten fühlen Sie sich durch die Region inspiriert?  

Leo: „Zu Geschichten, die nicht um ein Zentrum herum geschrieben sind. Neulich stand ich mit dem Vorsitzenden der Stiftung „Schalker Markt“, Olivier Kruschinski, auf der Halde Rheinelbe, am südlichen Rand von Gelsenkirchen. Kruschinski zeigte nach Norden, wo der Turm des Rathaus Buer am nördlichen Stadtrand zu sehen war. Wenn man von Sacre Coeur über Paris schaut, sieht das anders aus. Hier maximale urbane Verdichtung, mit Königsbauten in der Mitte, dort Felder, Bäume und ein merkwürdiges Stadion, das zwar im geographischen Zentrum steht, aber nicht wie ein König, sondern eher wie ein Ufo, immerhin in königsblau.“

Die Kritik seines früheren Metropolenschreiber-Kollegen Wolfram Eilenberger, das Ruhrgebiet beschreibe sich zu sehr rückwärtsgewandt, teilt der Historiker mit einer Einschränkung: „Es ist wichtig, uns auf Fakten basiert zu besinnen, was wirklich war und was wir können. Mir leuchtet ein, was Kruschinski sagte, dass nämlich das Ruhrgebiet in Hochzeiten des Kohleabbaus ein Zentrum der Hochtechnologie war. Hier wurden weltweit innovative Abbauverfahren und Sicherheitstechnik entwickelt. Eine spezielle Art Silicon Valley also. Wenn das in der Vergangenheit möglich war, kann das auch in anderen Wirtschaftsbereichen wieder gelingen.“