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Reflexionen einer Metropolenschreiberin im Februar

Unsere Metropolenschreiberin Eva von Redecker macht einen Spaziergang durch Kunst und Geschichte im Folkwang-Museum. Dabei steht die Betrachtung über Kohle, Kunst und die Triebkräfte der Erde besonders im Fokus.

Es ist ein wundersamer Status als Metropolenschreiberin. Es kommt mir vor, als sei ich als Diplomatin einer Phantasienation unterwegs. Auf Englisch nennt man die Geistes- oder Gelehrtenwelt die „Republik der Buchstaben“. Offenbar diene ich gerade als deren Botschafterin. Ob es eine Kläranlage oder eine Kunstsammlung ist, bei der ich mich anmelde: plötzlich öffnen sich Türen und bilden sich Delegationen, um mir Orientierung zu bieten.

Das ist allein schon auf praktischer Ebene ein großes Glück, denn ich neige dazu, mich überall zu verlaufen. Beziehungsweise überall in der bebauten Welt. Durch Wald und Flur bringe ich jeden nach Hause. Aber in Gebäuden und Städten bin ich notorisch auf Abwegen, wenn die Straßen nicht gerade, wie in New York, längs und quer durchnummeriert sind.

 

Ich war also sehr froh, als Botschafterin der Buchstaben beim Spaziergang durch das Folkwang-Museum in Essen ortskundig begleitet zu werden. Fachkundig waren meine Führer aus Museumsteam und Förderverein natürlich auch, so dass ich versuchte, trotz meines begrenzten Kunstverstandes irgendetwas interessantes zur Unterhaltung beizusteuern. Der erste Raum der Ausstellung bot Werke, die archetypische Mythen aufgriffen. Da waren gleich mehrere Evas zugegen. Und Barnett Newman hatte „Prometheus“ in einer riesigen hochformatigen, tiefschwarzen Leinwand eingefangen. Ich sah sofort wieder Kohle. Was war schon die erste, von den Göttern gestohlene Fackel im Vergleich mit der Verbrennungsleistung des Fossilzeitalters.

 

In seiner Studie Carbon Democracy versucht der New Yorker Sozialhistoriker Timothy Mitchell die Energieexplosion, die durch fossile Brennstoffe ausgelöst wurde, in Zahlen zu fassen. Ganz verschiedene Metriken können zum Einsatz kommen. Allein die englische Kohleindustrie warf 1870 1,5 Millionen PS an Elektrizität ab, was sich im Laufe der nächsten 100 Jahre auf 100 Millionen PS ver-67fachte. Strom ist die raffinierteste Form, in der ein schwarzes Stück Erdinneres als Energie für Menschen nutzbar wird. Auch in Wärme oder Antriebskraft lässt sich der Stoff übersetzen, den man deshalb auch als „abstrakten“ Energieträger bezeichnet. Alle diese Übersetzungen basieren auf Verbrennung und produzieren Kohlendioxid. Nun, wo die Emissionen in der Luft sind, spüren wir sie als Fesseln. So kalt es im Januar manchmal war – im Schnitt ist das vergangene Jahr das wärmste seit Beginn der Wetteraufzeichnung.

 

„Der gefesselte Prometheus“ ist auch der Titel einer Karikatur aus dem Vormärz, in der Karl Marx als leidender Titan dargestellt ist. Die Zeichnung bezieht sich auf Fragen der Pressefreiheit. Nachdem Marx ein Jahr in der Rheinischen Post tätig gewesen war, wurde die Zeitung 1843 von der preußischen Zensur verboten. Das Bild trifft aber unwillkürlich auch den Kern der Theorie, die Marx im folgenden Jahrzehnt entwickeln sollte. Er war ein Enthusiast der kapitalistisch mobilisierten Energieströme. Was er Produktivkraftentwicklung nannte – dass dank immer besserer Werkzeuge immer weniger menschliche Arbeitszeit in die Verrichtung derselben Aufgabe flösse – verstand er als Grundlage der Befreiung. Er ahnte nicht, welche Rückwirkungen ebenfalls in dieser Kraft gespeichert waren und dass die Fackel auch die Fesseln der Zukunft überbrachte.

 

Der Zukunft widmet sich ein anderer Raum in der Folkwang-Ausstellung. Die Werke darin sind lose um Weltraumthemen gruppiert. Dort stand ich plötzlich wie gebannt vor einer anderen ziemlich dunklen Leinwand. „Der Stern“ heißt das 1936 entstandene Gemälde. Den Künstler, Fritz Winter, kannte ich nicht. Fritz Winter war einer der ersten abstrakten Maler. Zunächst als Elektrotechniker im Bergbau ausgebildet, ging er nach Dessau und studierte unter anderem bei Kandinsky. Von den Nationalsozialisten wurde ihm 1937 ein Malverbot erteilt. Seine abstrakte Kunst galt als entartet. Er wurde zum Heeresdienst eingezogen und verletzt. Beim Genesungsurlaub schuf er 1944 heimlich einen ganzen Werkzyklus ebenfalls abstrakter Gemälde, der „Triebkräfte der Erde“ betitelt ist. Fritz Winter widmete das Werk dem antifaschistischen Widerstand.

 

Mich elektrisierte allein schon der Titel: Triebkräfte der Erde. Als wären der Frühling und Sigmund Freud plötzlich in die marxistische Produktivkrafttheorie eingebrochen. Ich hatte endlich einen Namen für Kohle gefunden, der sie mit dem verband, was noch nicht und nicht mehr Kohle war. In den Tagen nach dem Museumsbesuch war ich in einer permanenten Hochstimmung unterwegs. Ich schaute auf die Häuserblöcke und Stromleitungen und Gleisbette und dachte wie im Refrain „Triebkräfte der Erde“. All das, all der Beton, der Stahl, der Asphalt und selbst noch die verfluchten Autos – all das sind die Triebkräfte der Erde. Nicht nur starre tote Materie, sondern auch das Zeugnis einer überwältigenden Energie, eine Metamorphose des Pflanzenwachstums. Jedes Jahr verbrennen wir das Gesamtvolumen von 400 Jahren verkohlter Vegetation. Man kann davon nicht abstrahieren, indem man es wegwünscht. Der Geist geht nicht zurück ins Flöz. Und doch ist es fast unmöglich, sich nicht nach weiteren Metamorphosen zu sehnen. Können wir innehalten und ausbuchstabieren, welche Triebkräfte ab jetzt in der Erde bleiben? Und mit welcher Energie wir die Fesseln langsam lösen?

 

 

Ein Beitrag unserer aktuellen Metropolenschreiberin Eva von Redecker