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Die unsichtbaren Frauen an der Ruhr

Ein Beitrag unserer Metropolenschreiberin Ruhr Nora Bossong

Am Sonntag um neun ist der Bahnhof Gelsenkirchen so ausgestorben, dass man meinen könnte, es wäre noch mitten in der Nacht und die Sonne wäre nur versehentlich schon aufgegangen. In der Fußgängerzone sehe ich erste Passanten. Eine Frau verschwindet im Schlund einer unterirdischen Spielhalle. Eine andere Frau schiebt einen Kinderwagen, wohin auch immer. Sonst treffe ich nur Männer. Sie trinken Kaffee, sie stehen zusammen, sie warten hinter dem Tresen auf die ersten Kunden im arabischen Schnellrestaurant.

Ist dieses Bild nicht, denke ich, auch ein bisschen das Bild des Ruhrgebiets, wie es mir immer wieder aufgezeichnet wird? Man nimmt sich mehr Zeit zu erklären, dass es „auf“ Schalke und nicht in, vor oder hinter Schalke heißt, als dafür, auch nur einmal eine Frau zu erwähne, ob als Fan, als Spielerin im Frauenfussball oder ganz abseits des Spielfelds. Man spricht vom Bergmann und dem Zechensterben, als wäre der Niedergang erst in den 1990er erfunden und nicht schon in früheren Jahrzehnten immer wieder zu spüren gewesen. Wo aber, frage ich mich dann jedes Mal, waren eigentlich die Frauen in diesen Jahren? Waren sie zu Hause und haben Stullen geschmiert und die Kinder erzogen? Oder haben sie womöglich neben all dem auch gearbeitet, weil es gar keine andere Wahl gab, hinten und vorne nicht gereicht hat mit dem Geld? Und ist das allein deshalb keine Erzählung wert, weil es leider so viel weniger ikonografisch ist als der Bergmann in seiner Kluft?

Im Gelsenkirchener Stadtarchiv finde ich vorgedruckte Einladungskarten zur der Eröffnung des neuen Stadtwalds Mitte der Zwanziger Jahren. „Wir werden durch …. Herren bei dem am Sonnabend, den 14. Juni 1924, stattfindenden Presse-Empfang vertreten sein.“ In der Stadtchronik von 1936 tauchen dann auch einmal Frauen auf, wenigstens zum Muttertag, und da wird gleich jubiliert: „Die Mütter bauen die deutsche Zukunft und von ihnen wird es abhängen, wie die Zukunft sein wird“. Dass sie dafür jenseits der Öffentlichkeit, in der heimischen Familienfürsorge verborgen blieben, die Mütter des Reichs, verstand sich von selbst.

Nun ist das für jene Zeit nichts ungewöhnliches. An Frauen zu denken bei einem Presse-Empfang in der Weimarer Zeit? Nun ja, das Wahlrecht hatten sie ja immerhin schon. Und dass die NS-Ideologie ohnehin alles wieder rückgängig zu machen suchte, was an Frauengleichberechtigung erstritten war und „die deutsche Frau“ sauber, ungeschminkt und möglichst unauffällig dem Manne das Heim zu bereiten hatte, ist bekannt und nichts ruhrgebietsspezifisches.

Doch die Unsichtbarkeit der Frauen in der Erzählung des Ruhrgebiets bleibt auf seltsame Weise auch für die folgenden Jahrzehnten bestehen. Diesen Umstand bemerken all jene nicht einmal, die mir diese Erzählungen präsentieren. Dabei waren Frauen ja ab und an sichtbar, sogar in der Öffentlichkeit, sogar in herausgehobenen Positionen. Man konnte sie sehen, wenn man sie denn sehen wollte. Vielleicht wollte man nicht.

Da gab es etwa die erste Oberbürgermeisterin einer deutschen Großstadt – Luise Albertz, die unmittelabr nach dem Krieg im zertrümmerten Oberhausen als SPD-Politikerin zur „Mutter der Bedrängten“ wurde. Es gab Marielies Kutsch, die in den 1950er Jahren erste weibliche Fachsekretärin der IG Bergbau wurde und Fragen der Frauenarbeit ins Politische hob. Am Theater Oberhausen zeichnet das Stück §218 eine kollektive Biographie von Frauen aus Oberhausen nach, von der Dominanz der Familie – geplanter und ungeplanter Familiengründung, von Ausbruch, der mitunter Abbruch einer Schwangerschaft bedeutete, mit allen Ängsten, Zwängen und eben auch schuldbehaftetem Alleinbleiben. Die großen, wohl manchmal auch ein wenig nostalgisch verklärten Loblieder vom Gemeinschaftsgefühl, von der Solidarität hier im Ruhrgebiet, auch da besetzen Männer meist die Hauptrollen. Sie mussten ja zusammenhalten, unten im Schacht, denn allein war es noch lebensgefährlicher als gemeinsam. Und die Frauen oben? Es sind ihre Geschichten, die ich jetzt viel lieber hören möchte als ein weiteres Glückauf.