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Stiftungstag 2023: Offene Worte aus dem Ruhrgebiets-Herzen

Der diesjährige Brost-Stiftungstag stand im Zeichen von Heimat und Humanität

Es war kein Abend für Pottromantiker – selten wurden so zügig und treffsicher Mythen und Klischees über das Ruhrgebiet abgeräumt wie an diesem Brost-Stiftungstag!

 Im Podiumsgespräch mit Metropolenschreiberin Nora Bossong stellte Frank Goosen, Autor und Kabarettist, nüchtern fest: „Leute, die die Gegend hip machen, wollen hier nicht wohnen!“ Unter anderem auch deshalb, weil „du hier ohne eigenes Auto nicht von A nach B kommst“. Die vielfach stilisierte Trinkhallenkultur sei fast ausgestorben, lebendig dagegen eine „gewisse Engstirnigkeit“ der Ruhris, gerade was Fußball betreffe. Dessen vermeintliche Identitätsstiftung und Wahrhaftigkeit kommentiert der in Bochum geborene VfL-Fan aus der Erfahrung seiner Vereinsarbeit drastisch: „Am Arsch die Räuber! Ich hätte mir etwas mehr Ehrlichkeit im Profifußball gewünscht.“

Klare Worte im Erich-Brost Pavillon auf Zeche Zollverein, die zum Selbstverständnis der Brost-Stiftung passen.  „Unsere Stiftung ist ein Werkzeug, die Welt der Metropole Ruhr ist der Ort, und unser Treffen ist Gelegenheit, frei über alles zu sprechen“ formulierte es Professor Bodo Hombach in seiner Rede. „Über Ergebnisse des vergangenen Jahres, über Hoffnungen und Pläne für die Zukunft. Und das mit den wunderbaren Werkzeugen der gegenseitigen Verständigung!“ Der Vorstandsvorsitzende war kurzfristig verhindert, in seinem Namen las Professor Dieter Engels, Vorsitzender des Kuratoriums, seine Begrüßungsworte vor.  

„Viele warten auf das nächste große Ding, also einen Arbeitgeber wie die Ruhrkohle oder Opel. Aber das wird nicht kommen.“

Frank Goosen

In der anschließenden Diskussion zum Thema „Zwischen Zeche und Zukunft – Heimat & Identität im Ruhrgebiet“ bestätigte Nora Bossong, die auf Einladung der Stiftung gerade neun Monate in Mülheim lebt, in Teilen Goosens Beobachtungen. „Ich hatte mich auf die räumliche Nähe der Städte gefreut, von Mülheim nach Essen braucht der Zug nur sechs Minuten. Wenn ich es denn nach 55 Minuten mit dem ÖPNV von meinem Vorort zum Hauptbahnhof geschafft habe…“

Neue Brost-Ruhr Preisträgerin
In seiner Rede lüftete Prof. Bodo Hombach ein kleines Geheimnis: Am 9. November erhält Mona Neubaur, NRW-Ministerin für Wirtschaft, Industrie, Klimaschutz und Energie und stellvertretende Ministerpräsidentin von Nordrhein-Westfalen, den Brost-Ruhr Preis 2023. Hombach: „Die Funke-Verlegerin Frau Becker hat am Montag dazu gesagt: ‚Viele Politiker, gerade in Berlin, sollten sich an ihr orientieren ..., das Land stünde besser da.‘ Ich zitiere, weil ich der Geehrten keine Neider um den Hals hängen will.“

Im Blick nach vorn waren sich die beiden Schriftsteller einig, dass in der ehemaligen Stahl- und Kohleregion eine üppig blühende Kulturlandschaft entstanden sei. Goosen verwies neben dem preisgekrönten Bochumer Schauspiel auf eine vielfältige Literaturszene, schränkte aber ein: „Seit Jahren läuft der Versuch, die Leute mit Kultur zu impfen, aber viele Leute sind daran nicht interessiert.“ Das große Verdienst der politisch Verantwortlichen bestehe darin, die Zechen und Stahlwerke nicht abzureißen, sondern in sozio-kulturelle Zentren umzuwandeln, in denen vor allem die „Unterhaltungskultur“ von den Bürgern angenommen werde.

Wo lassen sich darüber hinaus Zukunftsperspektiven für die Region festmachen? Goosen beschreibt einen Besuch im Bergmannsheil-Krankenhaus, bei dem er mittels Elektroden an einer Kappe durch Gehirnströme einen Rollstuhl lenken konnte. „Es war durch pure Konzentration möglich. Auf dem gleichen Flur haben Menschen trainiert, die vom Hals abwärts gelähmt waren“, so Goosen. „Solche Zukunftstechnologien werden ringsum durchaus entwickelt.“ Für Nora Bossong könnte die Transformation wichtige Impulse durch den Wechsel zur „grünen“ Stahlproduktion bekommen. Am 22. Oktober wird sie auf der Lit.Ruhr in der Diskussion mit ihren Metropolenschreiber-Vorgängern Wolfram Eilenberger und Per Leo den Spagat zwischen Zeche und Zukunft vertiefen.

„Zum Selbstverständnis und Wir-Gefühl des Ruhrgebietes gehört auch das Bekenntnis, dass hier die Waffenkammer Deutschlands war, aus der zwei Weltkriege befeuert wurden.“

Nora Bossong

Neben dem kritischen Diskurs ging es beim Stiftungstag aber auch um Erfolgsgeschichten, um von der Brost-Stiftung geförderte Initiativen, die das Leben der Menschen leichter machen. So wie der Verein „Menschenmögliches“, der sich unter anderem um die Familienangehörigen von Krebspatienten kümmert. In der Essener Klink für Integrative Onkologie startet gerade ein neues Projekt, in dem krebskranke Frauen, die vorher hier behandelt wurden, Leidensgenossinnen als Mentorin zu Seite stehen sollen. 60 ehemalige Patientinnen haben sich bereits gemeldet. Koordinatorin Susanne Du Bois: „Die Diagnose Krebs schlägt wie eine Bombe in das Leben ein. Da ist eine große Hilfe, von einem Menschen begleitet zu werden, der genau weiß, wie ich mich gerade fühle.“

In Einzelgesprächen versuchen die Verantwortlichen aus einem Pool von Frauen, zwischen 29 und 80 Jahren alt, die passende Mentorin für die jeweilige Patientin zu finden. Im Mittelpunkt der Arbeit von „Menschenmögliches“, die die Brost-Stiftung mit rund 120.000 Euro unterstützt, stehen außerdem Kinder aus Familien, in denen ein Elternteil akut an Krebs erkrankt ist.

Mehr zu den insgesamt 62 im Jahr 2022 geförderten Projekten finden Sie im aktuellen Jahrbuch der Brost-Stiftung.

Dort wird auch das Tanzprojekt „Move!“ vorgestellt, seit über 10 Jahren fester Bestandteil der Spielzeiten am „Musiktheater im Revier“ in Gelsenkirchen. An fünf Partnerschulen und einer Tanz-AG beginnen die Proben für ein neues Stück, das am 27. Juni Premiere im großen Haus feiern soll. Wie in den Vorjahren werden die Schülerinnen und Schüler von Profitänzern begleitet, bereits seit der vergangenen Spielzeit werden im Rahmen von Inklusion auch gehörlose Schülerinnen und Schüler einbezogen.  „Neben der Integration von Jugendlichen aus den unterschiedlichsten Gesellschaftsbereichen ermutigt „Move!“ die Kinder und Jugendlichen, sehr lange auf ein Ziel hinzuarbeiten“, erklärt Michelle Yamamoto, Managerin der MiR Dance Company. „Sie geben nicht auf, das ist sehr wichtig!“

Um es mit dem Motto der Brost-Stiftung auf den Punkt zu bringen: Erfolg hat drei Buchstaben: TUN!

Begrüßung von Prof. Hombach, der kurzfristig verhindert war (die Rede wurde von Prof. Engels, Vorsitzender des Kuratoriums, vorgetragen)

Sie hören es! Wer heutzutage öffentlich und offen reden will, betritt vermintes Gelände.
Bereits Goethes Mephisto schwurbelte: „Es ist so schwer, den falschen Weg zu meiden.“ Er bespöttelte den anschwellenden Schwarm eilfertiger Inquisitoren. „Wer sich mit feuchter Aussprache vor mich stellt, wer oberlehrerhaft verkündet, ab heute sei dieses Wort verboten, wer verlangt, ausschließlich jenes zu benutzen, der hat es schwer mit mir“.
Der misstraut seiner Überzeugungskraft. Warum sollte man ihm folgen? … Seine Stimme erheben, sein Wort machen, das Wort ergreifen, einen Redebeitrag leisten, sich äußern, etwas sagen, etwas von sich geben, eine Äußerung tätigen … so nennt es der Amtsschimmel. Umgangssprachlich heißt es: den Mund aufmachen.
Das Synonym-Wörterbuch bündelt das alles unter dem Begriff „Verlautbarung“. Den greife ich auf und erfinde den „Verlautbarungsknebel“. Den fürchten viele. Zu viele scheint er zu würgen. Den Allensbachern sagten schon vor zwei Jahren nur noch 45 %, dass sie ihre Meinung frei äußern könnten. 37 % wollten das nur noch vorsichtig tun. Die im Kommunikationsschatten sind ohnehin im Zustand fideler Resignation. Die fühlen sich weder gefragt, noch gehört. Eigentlich schwer verständlich. Man darf doch sogar auf die Pauke hauen.
Der Nuancenreichtum der deutschen Sprache ist schier unerschöpflich. Gegen den pandemischen Virus des gefühlten Verlautbarungsknebels arbeitet unsere Stiftung an einer immunologischen Brandmauer.
Für unser nächstes Buch „Mission Wahrheit“ schreiben gerade 35 prominente Autoren. Im Jahrbuch finden sich dazu etliche Projekte. Die wirken in Richtung Medien, Öffentlichkeit und Politik. Meinen nächsten Aufsatz sollte ich überschreiben: „Was ich schon immer mal verschweigen wollte“. Deutsche haben es mit dem Humor allerdings schwer. Lachen scheint gefährlich. Man lacht sich schief, krank oder gar tot. Kein Wunder, dass es in der deutschen Literatur nur drei echte Komödien gibt. Lessings „Minna von Barnhelm“, Kleists „Der zerbrochene Krug“ und Hauptmanns „Der Biberpelz“. Andere sind bestenfalls „Lustspiele“.
Von Till Brönners Libretto für Johan Simons Tanztheater erwarten wir erbaulich Motivierendes aus dem Revier und fürs Revier. Sprache ist ein Gewächs. Sie ist nicht kristallin, sondern vegetativ. Sie ist nicht digital, sondern analog. Sie agiert nicht präzise mit „Null“ oder „Eins“. Dafür ist sie aber bunt, reich und vieldeutig. Unsere MetropolenSchreiber*innen, wie jetzt die verehrte Frau Bossong, sind ein nachhallender Gewinn.
Ich denke gerade an den Waldspaziergang eines Vaters mit seinem kleinen Sohn. „Was sind das für Beeren?“, fragt der Knirps. „Blaubeeren“, sagt der Vater. „Aber warum sind die denn rot?“, wundert sich der Kleine. „Weil sie noch grün sind.“

In die Hand, die einen füttert, sollte man nicht beißen. Steuerfreiheit ist Verpflichtung gegenüber der ganzen Gesellschaft. Gemeinnützige Stiftungen dürfen nicht zu parteiisch oder polarisierend wirken. Systemtreu spreche ich ein Hoch auf den Föderalismus aus: Gerede vom Durchregieren aus dem schlicht regierten Berlin gruselt. Man stelle sich vor: Von der Krankenhausreform über die Heizungsfrage bis zu Sicherheitsthemen würde der Binnenpluralismus nicht standhalten.
Auch in diesem Sinne werden wir am 9. November die Landeswirtschaftsministerin Frau Neubaur mit dem Brost-Ruhr-Preis würdigen. Die Funke-Verlegerin Frau Becker hat am Montag dazu gesagt: „Viele Politiker, gerade in Berlin, sollten sich an ihr orientieren …, das Land stünde besser da.“ Ich zitiere, weil ich der Geehrten keine Neider um den Hals hängen will.
Zurück zur Sprache. Es gibt immer Gründe, sie weiterzuentwickeln, sie an neue Einsichten anzupassen. Der Rechtsbegriff „Mildtätigkeit“ wartet darauf. Gleichwohl bin ich dankbar, dass Frau Dr. Selbach, Frau du Bois, Herr Prof. Dr. Rüttgers, Herr Bischof Dr. Overbeck und Herr Staatssekretär Heidmeier diesen wichtigen Stiftungsauftrag in Zukunft professionalisieren und verstärken. Die sozialen Verhältnisse sind heikel. Hilfe ist nötig.
Wer einen Gegensatz zur gesellschaftlichen Einwirkung konstruiert, dem antwortet Brecht mit einem wunderbaren Gedicht (Die Nachtlager):
Ich höre, dass in New York An der Ecke der 26. Straße und des Broadway Während der Wintermonate jeden Abend ein Mann steht Und den Obdachlosen, die sich ansammeln Durch Bitten an Vorübergehende ein Nachtlager verschafft. Die Welt wird dadurch nicht anders Die Beziehungen zwischen den Menschen bessern sich nicht Das Zeitalter der Ausbeutung wird dadurch nicht verkürzt Aber einige Männer haben ein Nachtlager Der Wind wird von ihnen eine Nacht lang abgehalten Der ihnen zugedachte Schnee fällt auf die Straße.

Seit sieben Minuten fragen Sie sich: „Was hat das alles mit dem Brost-Tag zu tun?“ Ganz einfach: Unsere Stiftung ist ein Werkzeug, die Welt der Metropole Ruhr ist der Ort, und unser Treffen ist Gelegenheit, frei über alles zu sprechen: Über Ergebnisse des vergangenen Jahres, über Hoffnungen und Pläne für die Zukunft. Und das mit den wunderbaren Werkzeugen der gegenseitigen Verständigung!

Das Jahrbuch gibt Auskunft. Es ist Protokoll und Ausdruck einer lebendigen Zelle der Zivilgesellschaft. Ich danke allen, die daran mitgewirkt haben und es weiterhin tun werden.
In Brechts „Dreigroschenoper“ doziert der Bettlerkönig, was alles nötig, gut und sinnvoll wäre, aber leider nicht geschieht, „denn die Verhältnisse, die sind nicht so.“
Wir wissen es besser. Die Verhältnisse sind Ergebnis auch unseres Verhaltens. Sie sind so gut oder schlecht, wie wir sie wollen.
Ich wünsche uns ein gutes Beisammensein.

Impressionen des Stiftungstags 2023