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Mythos, Klischees und Currywurst

Ariel Magnus, neuer „Metropolenschreiber RUHR“, reist mit Neugier und Vorfreude aus Buenos Aires an

Für Ariel Magnus (44) ist es auch eine Reise in die Vergangenheit, wenn er am Ende September aus Buenos Aires nach Deutschland kommt. Der Schriftsteller und Übersetzer wird ab dem 1. Oktober neuer „Metropolenschreiber RUHR“ und auf Einladung der Brost-Stiftung ein Jahr lang in Mülheim an der Ruhr leben. Von dort sind es im Auto nur gut 40 Minuten bis Wuppertal, jener Stadt, in der seine Großmutter Ella Mayer gelebt hat. Ehe sie später aus Hamburg mit dem letzten Zug und aus eigener Initiative nach Theresienstadt fuhr. Sie überlebte Auschwitz und ging nach Brasilien, Magnus hat im Buch „Zwei lange Unterhosen der Marke Hering“ (erschienen 2012) ihr Leben aufgeschrieben.

Im Interview spricht der mehrfach ausgezeichnete Autor über sein Verhältnis zu Deutschland, Erwartungen und Pläne für die Zeit im Ruhrgebiet.

Mit welchen Gefühlen steigen Sie ins Flugzeug?
Ariel Magnus: „Mit einer Mischung aus Neugier und Freude aufs Wiedersehen. Ich habe von 1999 bis 2005 in Deutschland gelebt, seitdem in Buenos Aires und ging immer wieder nach Deutschland, aber nie länger als ein paar Wochen. Den Namen Mülheim hatte ich vor dem Kontakt zur Brost-Stiftung nie gehört, aber meine deutschen Freunde konnten alle irgendeine Geschichte mit der Stadt in Verbindung bringen.“

Werden Sie allein ins Ruhrgebiet kommen?
Magnus: „Nein, meine Frau Mariana Dimopulos begleitet mich. Sie ist ebenfalls Schriftstellerin und Übersetzerin.“

Wie sind aktuell die Lebensumstände in Ihrer Heimat?
Magnus: „Wir haben Winter, also heute gerade nicht, es ist 25 Grad warm, die Sonne scheint.
Abseits dieses schönen Wetters ist die Lebenssituation der meisten Menschen im Moment eher nicht angenehm. Wir haben die wohl längste Corona-Quarantäne der Welt, seit Ende März herrscht Lockdown. Die Schulen sind geschlossen, arbeiten dürfen viele Menschen nur von zu Hause, Fußball gibt es nicht einmal ohne Zuschauer.
Erst seit einigen Tagen darf man wieder raus mit den Kindern, oder neulich auch zum Friseur und ins Restaurant, aber nur im Freien. Nichts wird aber wirklich kontrolliert. Die Leute sind es einfach satt und die Wirtschaft ist massiv angeschlagen. Eine ähnliche Situation durften wir leider schon 2001 hier erleben.“

Hilft der Staat den Menschen?
Magnus: „Ja, es gab von Anfang an finanzielle Unterstützung für alle Bürger. Auch das Gesundheitssystem funktioniert. Allerdings wird die Testkapazität nicht ausgeschöpft und die Verfolgung der Infektionsketten ist nicht sonderlich effizient.
Bemerkenswert finde ich, dass zu Beginn jeder einzelne Todesfall in den Medien großen Widerhall fand, inzwischen sind es landesweit mehrere Hundert Tote, die aber nur relativ klein in den Zeitungen thematisiert werden.“

In Deutschland ist die Situation deutlich anders…
Magnus: „Es ist einer der spannendsten Aspekte meines Aufenthaltes, zu sehen, wie Menschen in einem anderen Land mit der Pandemie umgehen. Aus der argentinischen Perspektive ist Europa ein Paradies, auch weil die Menschen sich an die Regeln halten. Hier macht jeder, was er will, man kann schwerlich von einer öffentlichen Ordnung reden. Was auch seine gute Seite haben kann...“

Worauf sind Sie im Ruhrgebiet besonders neugierig?
Magnus: „Ich weiß nicht viel über die Region, war nur einmal zu einer Lesung während der Frankfurter Buchmesse auf einer Zeche. Meine spontanen Assoziationen sind Kohle und Fußball. Die gehen auf den Geographieunterricht an meiner deutschen Schule in Buenos Aires zurück. Ich erinnere mich noch genau an den Namen des Lehrers und an das irgendwie mystische Wort ‚Ruhrgebiet‘. Für mich ist die Region gleichbedeutend mit der Wiederbelebung Deutschlands nach dem Krieg. Es werden mir sicher wieder viele Dinge aus dem früheren Unterricht einfallen. Am neugierigsten bin tatsächlich darauf, wie ich diese Entdeckungen produktiv umsetzen kann.“

Haben Sie schon konkrete Vorstellungen, in welcher literarischen Form Sie Ihre Beobachtungen festhalten wollen?
Magnus:
„Ja, ich gehöre zu den Autoren, die von Beginn an ein Format wählen müssen, um dann die Welt aus der gewählten Perspektive zu betrachten. Man sieht anders, wenn man für eine Reportage recherchiert, als wenn man auf Fiktion oder Fotos eingestellt ist.
Mir schweben fiktionale Texte vor, so wie in einem früheren Buch, das in spanischer Sprache erschienen ist. Es besteht aus 100 Geschichten, jede exakt 100 Worte lang. So weit würde ich jetzt in den Vorgaben nicht gehen wollen, aber es sollen Kurzgeschichten werden.
Für die ich mir den Titel ‚Kurzgebiete‘ ausgedacht habe. Das werde ich mit den Verantwortlichen der Stiftung noch besprechen.“

Wie wollen Sie verhindern, dass die Geschichten am Ende wieder nur Ruhrgebietsklischees transportieren?
Magnus: „Klischees sind ein sehr komplexes Phänomen. Es liegt in der Erwartungshaltung der meisten Leser, ihre eigenen Vorstellungen bei der Lektüre bestätigt zu bekommen.
Übertragen wir dies einmal auf Buenos Aires und Argentinien. Wer einmal dort war, denkt zurück an Tango, Steaks und Fußball. Und wäre enttäuscht, wenn er diese Dinge in einem Buch über die Region nicht wiederfindet.
Fiktion gibt dem Autor aber die Möglichkeit, mit den Klischees zu ‚arbeiten‘. Also sie nicht nur wie in einer Reportage zu transportieren. Das habe ich in meinem Buch ‚Ein Chinese auf dem Fahrrad‘ auch gemacht. Am Ende sollen die Geschichten mein ganz persönliches Verhältnis zum Ruhrgebiet abbilden.“

Stichwort „Persönliches“: Wie stehen Sie zu Pils und Currywurst?
Magnus: „Ich mag kein Bier, konnte mich selbst während des früheren Deutschlandaufenthaltes nicht daran gewöhnen. Dafür erinnere ich mich an gute Weißwürste zurück, die ich in Buenos Aires echt vermisse. Auf eine Currywurst an der Bude, mitten unter den Leuten, freue ich mich.“

Das ist Ariel Magnus:

Ariel Magnus, geboren 1975 in Buenos Aires, besucht in Argentinien eine deutsche Schule. Danach Studium in Heidelberg und Berlin (Romanistik und Philosophie) mit der Begabtenförderung der Friedrich-Ebert-Stiftung. Er schrieb für verschiedene Medien in Lateinamerika, die taz in Berlin und SPIEGEL ONLINE und lebt heute als Autor und literarischer Übersetzer in Buenos Aires.

Er hat bislang achtzehn Bücher veröffentlicht. 2007 wurde er für seinen Roman »Ein Chinese auf dem Fahrrad« mit dem internationalen Literaturpreis Premio La Otra Orilla ausgezeichnet. Das Buch wurde in zahlreiche Sprachen übersetzt, 2010 erschien es auf Deutsch bei Kiepenheuer & Witsch. Es folgte das Porträt seiner Großmutter (»Zwei lange Unterhosen der Marke Hering«, 2012) und “Die Schachspieler von Buenos Aires” (2018). Nächstes Jahr erscheint auf Deutsch sein neuer Roman über Adolf Eichmanns letzte Jahre in Argentinien.