Die Marxloherin Sylvia Brennemann
In der Reihe: Helden des Alltags
Von Gila Lustiger
Duisburg. „Kommen Sie schnell”, hieß es am Telefon. „Wohin?”, fragte ich. „Kennen Sie den Petershof?” Ja, kannte ich, diese Anlaufstelle für Menschen in prekären Situationen hatte ich auf meine Streifzügen durch Marxloh schon mehrmals besucht.
Der Petershof ist als sozialpastorales Zentrum an die katholische Kirche angegliedert, aber ein Schmelztiegel der Kulturen. Die Menschen, die hier stranden, weil sie einen Wintermantel brauchen oder eine warme Mahlzeit, Hausrat oder eine Impfung für die Kinder, Hilfe beim Behördengang oder eine Notunterkunft, schildern ihre Sorgen in vielen Sprachen. Auf Deutsch natürlich, aber auch auf Türkisch, Kurdisch, Polnisch, Italienisch, Litauisch, Arabisch und auf Bulgarisch und Rumänisch. Für über die Hälfte der Marxloher gehört Einwanderung zur Familiengeschichte. Viele sind Neuzuwanderer. Doch es sind auch die Kinder und Enkelkinder derer darunter, die vor Jahrzehnten angeworben wurden, um die Region wirtschaftlich aufzubauen.
Was macht man, wenn das, wofür man die Heimat, die Sprache, die Familie und die Freunde verlassen hat, verschwindet? Wenn die einst größte Stahlproduktionsstätte Europas keine Arbeit mehr bietet? Man zieht weg. Und was passiert mit denen, die nicht wegziehen können? Die erfahren am eigenen Leib, was mit einem Arbeiterstadtteil ohne Arbeit geschieht. Die sehen, wie das Kleingewerbe infolge fehlender Kaufkraft verdorrt und Geschäfte schließen, wie sich eine Stadt mangels Gewerbesteuereinnahmen immer mehr verschuldet, wie Straßen, wie Schulen nicht mehr modernisiert werden können... Über 22 Prozent der Marxloher sind arbeitslos, fast die Hälfte der Bewohner auf staatliche Hilfe angewiesen. 18 Prozent aller Vollzeitbeschäftigten bekommen einen Niedriglohn. Wie stemmt man so etwas? Nur mit Solidarität.
„Zusammenraufen”, nennt es Sylvia Brennemann, die mich an jenem Abend bittet, zum Petershof zu kommen, damit ich die Nachbarschaftsinitiative kennenlerne, die sie mit anderen Ehrenamtlichen und Roma-Familien gegründet hat. Schon wieder, sagt sie am Telefon, habe die Taskforce der Stadt Duisburg die Brandschutzverordnung benutzt, um eine Familie auf die Straße zu setzen.
Als ich eintreffe, redet Sylvia Brennemann mit dem Vater, während seine Frau und die vier jungen Kinder geduldig an der Türe harren. Es ist diese Geduld und der Geruch der Angst, die mich am meisten bedrücken. Ich vermute, dass auch diese Familie in einer Schrottimmobilie zum überhöhten Preis untergebracht war. Ich habe vom Geschäftsmodell jener skrupellosen Vermieter gehört: Sehr wahrscheinlich hat der Vermieter den Vater mit einem Schein-Arbeitsvertrag versorgt, damit er die aufstockenden Leistungen beim Jobcenter beantragen kann, die der Vermieter dann zusätzlich kassiert.
Ich schaue mir die Kinder an. Das letzte Mal habe ich diese Furcht in den Augen einer krebskranken Freundin gesehen. Nein, kein Kind darf so blicken. Weder in Deutschland noch anderswo.
Die meisten von uns haben ein Gefühl für Recht und Unrecht. Es bedarf aber eines besonderen Menschenschlags, eines besonderen Elans, um sich von den großen wie kleinen Problemen nicht lähmen zu lassen. Um bei „komplexen Situationen“ eine einfache Ordnung zu sehen.
Von Gila Lustiger
Duisburg. „Kommen Sie schnell”, hieß es am Telefon. „Wohin?”, fragte ich. „Kennen Sie den Petershof?” Ja, kannte ich, diese Anlaufstelle für Menschen in prekären Situationen hatte ich auf meine Streifzügen durch Marxloh schon mehrmals besucht.
Der Petershof ist als sozialpastorales Zentrum an die katholische Kirche angegliedert, aber ein Schmelztiegel der Kulturen. Die Menschen, die hier stranden, weil sie einen Wintermantel brauchen oder eine warme Mahlzeit, Hausrat oder eine Impfung für die Kinder, Hilfe beim Behördengang oder eine Notunterkunft, schildern ihre Sorgen in vielen Sprachen. Auf Deutsch natürlich, aber auch auf Türkisch, Kurdisch, Polnisch, Italienisch, Litauisch, Arabisch und auf Bulgarisch und Rumänisch. Für über die Hälfte der Marxloher gehört Einwanderung zur Familiengeschichte. Viele sind Neuzuwanderer. Doch es sind auch die Kinder und Enkelkinder derer darunter, die vor Jahrzehnten angeworben wurden, um die Region wirtschaftlich aufzubauen.
Was macht man, wenn das, wofür man die Heimat, die Sprache, die Familie und die Freunde verlassen hat, verschwindet? Wenn die einst größte Stahlproduktionsstätte Europas keine Arbeit mehr bietet? Man zieht weg. Und was passiert mit denen, die nicht wegziehen können? Die erfahren am eigenen Leib, was mit einem Arbeiterstadtteil ohne Arbeit geschieht. Die sehen, wie das Kleingewerbe infolge fehlender Kaufkraft verdorrt und Geschäfte schließen, wie sich eine Stadt mangels Gewerbesteuereinnahmen immer mehr verschuldet, wie Straßen, wie Schulen nicht mehr modernisiert werden können... Über 22 Prozent der Marxloher sind arbeitslos, fast die Hälfte der Bewohner auf staatliche Hilfe angewiesen. 18 Prozent aller Vollzeitbeschäftigten bekommen einen Niedriglohn. Wie stemmt man so etwas? Nur mit Solidarität.
„Zusammenraufen”, nennt es Sylvia Brennemann, die mich an jenem Abend bittet, zum Petershof zu kommen, damit ich die Nachbarschaftsinitiative kennenlerne, die sie mit anderen Ehrenamtlichen und Roma-Familien gegründet hat. Schon wieder, sagt sie am Telefon, habe die Taskforce der Stadt Duisburg die Brandschutzverordnung benutzt, um eine Familie auf die Straße zu setzen.
Als ich eintreffe, redet Sylvia Brennemann mit dem Vater, während seine Frau und die vier jungen Kinder geduldig an der Türe harren. Es ist diese Geduld und der Geruch der Angst, die mich am meisten bedrücken. Ich vermute, dass auch diese Familie in einer Schrottimmobilie zum überhöhten Preis untergebracht war. Ich habe vom Geschäftsmodell jener skrupellosen Vermieter gehört: Sehr wahrscheinlich hat der Vermieter den Vater mit einem Schein-Arbeitsvertrag versorgt, damit er die aufstockenden Leistungen beim Jobcenter beantragen kann, die der Vermieter dann zusätzlich kassiert.
Ich schaue mir die Kinder an. Das letzte Mal habe ich diese Furcht in den Augen einer krebskranken Freundin gesehen. Nein, kein Kind darf so blicken. Weder in Deutschland noch anderswo.
Die meisten von uns haben ein Gefühl für Recht und Unrecht. Es bedarf aber eines besonderen Menschenschlags, eines besonderen Elans, um sich von den großen wie kleinen Problemen nicht lähmen zu lassen. Um bei „komplexen Situationen“ eine einfache Ordnung zu sehen.
Die Zuwanderung der Armut
Für die Bundesregierung ist mit der Aufnahme zehn neuer Staaten (2004) sowie Bulgariens und Rumäniens (2007) in die Europäische Union „der größte einheitliche Markt der Welt entstanden.” Arme Menschen aber gehen in Städte mit niedrigen Mietpreisen. So zog ein Großteil der rumänischen und bulgarischen Zuwanderer nicht nach München und Frankfurt, sondern ins hochverschuldete Duisburg. Zum Jahresende 2015 lebten über 14 000 von ihnen in der Stadt. In Marxloh allein sind 4000 gemeldet, die Hälfte davon Kinder. Was macht eine arme Stadt mit so vielen armen Menschen? Mit so vielen armen Kindern? In einem offenen Brief an die Bundesregierung fordert der Duisburger Oberbürgermeister Sören Link, die Armutszuwanderung als gesamtgesellschaftliche Aufgabe anzuerkennen. Die Europäische Union solle „die Verantwortung der Herkunftsländer für die Verbesserung der Lebensverhältnisse von Zuwandernden einfordern”. Ebenfalls verlangt er „einen Lastenausgleich, der die erhöhten Sozialausgaben zugunsten betroffener Kommunen deckt.” Unterschrieben haben weitere 16 Städte, Bochum, Delmenhorst, Dortmund, Gelsenkirchen, Hamm, Herne, Mülheim...Ja, Armut ist ein gesamtgesellschaftliches Problem. Und im Ruhrgebiet auch ein lokales. Es gibt eine Hierarchie der Armut, wir wissen es spätestens, seit OB Link in einem Interview gesagt hat, dass er gerne das Doppelte an Syrern haben würde, wenn er dafür ein paar Osteuropäer abgeben könnte, und seit die Essener Tafel beschlossen hat, keine Nicht-Deutschen mehr aufzunehmen. In dieser Hierarchie stehen Deutsche vor Flüchtlingen und Flüchtlinge vor Armutszuwanderern. Und Roma hinter allen. Weder in ihren Herkunftsländern noch anderorts haben Roma Zugang zu Bildung, Arbeit und medizinischer Versorgung. In Marxloh versucht man sie derzeit zu verscheuchen. Nur werden sie nicht gehen. Wo sollten sie auch hin?
Ich treffe Sylvia Brennemann, ein paar Tage später in Duisburg in einem Café, um ihr eine einzige Frage zu stellen: Wie sie es schafft trotz der komplexen Situation, trotz aller Einwände, die man erheben, der Bedenken, die man vorbringen könnte, das Wesentliche zu sehen. Dass kein Kind auf der Straße schlafen sollte. Weder in Deutschland noch anderswo.
„Warum helfen Sie Roma-Familien?”, erkundige ich mich, nachdem wir einen Tee bestellt haben. Weil sie in Marxloh geboren sei, antwortet sie prompt. Und, auf meinen fragenden Blick: „Seit 150 Jahren kommen Menschen aus allen möglichen Ländern hierher, weil sie sich ein kleines Stück vom Glück erhoffen, und immer wieder widerfährt ihnen Ungerechtigkeit.”
„Warum helfen Sie Roma-Familien?”, erkundige ich mich, nachdem wir einen Tee bestellt haben. Weil sie in Marxloh geboren sei, antwortet sie prompt. Und, auf meinen fragenden Blick: „Seit 150 Jahren kommen Menschen aus allen möglichen Ländern hierher, weil sie sich ein kleines Stück vom Glück erhoffen, und immer wieder widerfährt ihnen Ungerechtigkeit.”
Eine Bürgerinitiative mit neun Jahren
Auch ihr Vater kam 1961, kurz vor dem Mauerbau nach Duisburg. Zuerst in der Schifffahrt, als Matrose, dann landete er im Ruhrorter Hafen, als Hafenarbeiter, später dann als besser bezahlter Befeuerungsmaurer bei Thyssen. Im Urlaub, in Spanien, habe er dann ihre Mutter kennengelernt, eine Holländerin. Als Kind sah sie, wie er regelmäßig, trotz der Schutzkleidung, mit Verbrennungen im Gesicht und an den Händen nach Hause kam. Bei mindestens 50 Grad hat er gearbeitet, 50 Kilo schwere Steine getragen. „Knochenmaloche”, sagt Sylvia Brennemann. Und trotzdem sei ihr Vater nicht der gewesen, der zum Streik aufruft. Er nicht. Sie schon.Zum ersten Mal wehrt sich Sylvia Brennemann im Alter von neun Jahren, als man ihr das Rollschuhfahren verbieten will. Sie hört sich an, was die Erwachsenen zu beanstanden haben, dann trommelt sie ihre Freundinnen zusammen und marschiert mit ihnen zur naheliegenden WAZ-Redaktion. Erste Bürgerinitiative, erster Zeitungsbericht, erster Erfolg: Die Kinder dürften fortan auf den Straßen rollen. Auf jenen Straßen, von denen Brennemann sagt, sie hätten aus ihr gemacht, was sie ist. Eine, die nicht wegsehen kann. Nachdem sie einer Trauerfeier auf einem Parkplatz neben einer Hauptverkehrsstraße beiwohnt – unwürdig sei das gewesen mit dem Verkehrslärm rundherum –, macht sie sich für den Bau einer Moschee stark. Warum sollen die Väter ihrer Klassenkameradinnen in einer alten Waschkaue beten müssen? Ganz natürlich sei dann, weil die NPD einen Aufmarsch vor der Moschee plante, ihr Beitritt zum Duisburger Netzwerk gegen Rechts gewesen.
Immer wieder purzeln Sylvia Brennemann die Probleme vor die Füße. Als 2014 Ärzte und Pflegekräfte im Petershof eine Praxis für Menschen ohne Krankenversicherung ins Leben rufen, ist sie, die gelernte Krankenschwester, natürlich sofort mit im Boot. 4000 Patienten, die mangels Versicherungsschutz in regulären Praxen abgewiesen wurden, haben sie versorgt. Viele kranke Kinder darunter. Auch Frauen, die nicht wissen, wo sie entbinden sollen. Seit Januar 2017 betreuen nun die Malteser-Mediziner die Notfallsprechstunde. Und Sylvia Brennmann betreut Menschen, die ihre Wohnung verlassen müssen. Warum? Wegen Marxloh, würde sie sagen.
Eine Form von Gegenwehr
Keiner ist gegen die Katastrophen gewappnet, mit denen ein Leben manchmal aufwartet. Hat man jedoch ein geringes Einkommen, ungesicherte Wohnverhältnisse, keine Ausbildung, keine Krankenversicherung, schlittert man schneller in jene Armut, von der die meisten von uns keine Vorstellung haben. Nein, ich weiß nicht, wie es sich anfühlt, wenn es selbst für die Grundversorgung, für Lebensmittel und Kleidung, nicht mehr reicht. Geringe Löhne haben dazu geführt, dass mittlerweile Menschen trotz ihrer Arbeit oder ihrer Rente von Armut bedroht sind. In Marxloh gibt es dafür kein Rezept. Aber eine Form von Gegenwehr. „Zusammenraufen” nennt es Sylvia Brennemann.Fotos: Morris Willner / FUNKE Foto Services