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Wochenlang keine warme Mahlzeit

Gabi Spitmann berät im Mühlheimer Arbeitslosenzentrum Menschen, die an den steigenden Energiekosten verzweifeln

27. Oktober 2022

Wenn sie das Alltagsgefühl ihrer Gesprächspartner beschreiben soll, reicht Gabi Spitmann ein Wort: „Angst“. Genauer gesagt: „Pure Angst…“

Die Menschen, die der Sozialarbeiterin im MÜLHEIMER ARBEITSLOSENZENTRUM (MALZ) gegenübersitzen, sind derzeit angesichts steigender Kosten für Lebenshaltung und Energie schlicht verzweifelt. Spitmann: „Mir hat kürzlich eine Frau erzählt, dass sie seit Ausbruch des Ukrainekrieges ihren Elektroherd nicht mehr anschaltet, aus Furcht vor den Stromkosten. Sie ernährte sich ab der fünften Kriegswoche nur noch von Toast und Marmelade.“ Nach eingehender Beratung kocht die Frührentnerin nun zweimal wöchentlich größere Mengen Suppen oder Reisgerichte, die später nur kurz aufgewärmt werden müssen. Parallel liest sie regelmäßig den Stromzähler ab.

Spitmanns „Kunden“ sind überwiegend Aufstocker, also Menschen die selbst mit 40 Stunden Arbeit pro Woche nicht über die Runden kommen. Sie führt Buch über jede Beratung, 630 waren es im ersten Halbjahr 2022, seit Oktober stieg die Zahl dramatisch an. „Selbst der erhöhte Mindestlohn in Deutschland reicht bei einer Familie mit zwei Kindern nicht aus“, erklärt sie. In ihrem Büro suchen Menschen aller Altersstufen, Gesellschaftsschichten und Berufsgruppen Rat. „Vom Fotografen bis zum Schauspieler oder Studenten“ sagt sie lächelnd. Die Finanzierung der Beratungsstelle, die durch einen Verein getragen wird, ist vorläufig gesichert, die Brost-Stiftung fördert mit einer fünfstelligen Summe.

Haushaltsbuch und Schnellkochtopf

Neben praktischer Hilfe bei Abmahnungen und Kündigungen, Fragen zum Arbeitslosengeld I und Hartz IV, beim Ausfüllen von Anträgen und Verstehen von Bescheiden, bei der Grundsicherung im Alter und Krankengeld, bei Eltern- und Kindergeld, bei Bewerbungen und Qualifizierung steht bei vielen Ratsuchenden die nackte Existenzsicherung im Vordergrund.

Spitmann: „In Haushalten, die mit jedem Cent rechnen, sind die aktuell um 30 Prozent gestiegenen Lebenshaltungskosten nicht aufzufangen. Wir beraten die Menschen dabei, wie sie ihren Stromzähler ablesen müssen, schreiben Briefe an die Energieversorger. Ich rate zur Anlage eines Haushaltsbuches, weil es beim bewussteren Einkaufen hilft.“

Angesichts knapper Ressourcen wird in jeden Winkel des (finanziellen) Alltags geleuchtet: Sind überall LED-Lampen eingesetzt? Welche überflüssigen Versicherungen können zum Jahresende noch gekündigt werden? Steht noch irgendwo ein Schnellkochtopf im Schrank, der weniger Energie beim Kochen verbraucht?

Oft könnte ein Antrag auf weitere Sozialleistungen helfen oder regelmäßiger Besuch bei einer Tafel. Spitmann: „Es dauert aber in der Regel bis zu einem Jahr, ehe die Menschen die Scham davor abgelegt haben. Sie wollen weiter kämpfen, im Selbstverständnis, wenig zu haben aber dennoch auszukommen. Keiner möchte zu den Armen gehören, weil arm sein mit unten sein gleichgesetzt wird.“

Kein Bedarf nach sozialer Hängematte

Hombach ist die Förderung des MALZ auch wegen dieses Selbstbehauptungswillens ein persönliches Anliegen. Nichts sei wichtiger und sinnvoller für Menschen, die arbeitslos geworden oder von Arbeitslosigkeit bedroht sind, betont der Stiftungs-Vorsitzende, als Motivation, Hilfe zur Selbsthilfe und die Befähigung, wieder ein eigenes Auskommen zu finden. „Kaum einer ruht sich in der sozialen Hängematte aus, die allermeisten sind Schicksale, die keine Chance bekommen haben, um wieder ins Erwerbsleben einzusteigen. Genau das weiß man beim MALZ nur zu gut, hier steht man seit nunmehr 35 Jahren den Mülheimer Bürgerinnen und Bürgern mit Rat und Unterstützung zur Seite.“