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Tod und Sterben ins Leben holen

 „Tag der Hospize“ rückt die Pflege alter und schwerstkranker Menschen ins Bewusstsein

14. Oktober 2022

„In der Antike sprach man von einer Kunst des Sterbens. Die Menschen wollten sich über viele Jahrhunderte gut vorbereitet ins Jenseits verabschieden. Heute möchte die Mehrzahl laut Umfragen einfach einschlafen oder mit ihrem liebsten Menschen auf dem Heimflug nach einem Urlaub gemeinsam im Flugzeug abstürzen. Wir bemühen uns, den Tod von uns weg zu halten.“

Die von Professor Eckhard Nagel formulierten Gedanken zum Buch „Das Leben vom Ende her denken“ (Band 3 der Brost-Bibliothek) überschreiben in angemessener Tonlage auch den heutigen „Tag der Hospize“. Am 14. Oktober nutzen ihn viele Einrichtungen beispielsweise für Benefizkonzerte oder Gedenkgottesdienste. Der erste deutsche Hospiztag fand 2000 auf Initiative des Deutschen Hospiz- und Palliativverbands statt, seitdem wird er jährlich begangen.

„Die Ausschöpfung aller Behandlungsmöglichkeiten kann im ungünstigsten Fall Leiden verlängern. Vielmehr sollten, neben Schmerzlinderung, Gespräche über den Tod, das Sterben und die Trauer gefördert werden“

Brost-Ruhr Preisträgerin Dr. Nicole Selbach

Hospize wollen das Sterben wieder in das Leben integrieren. Den Kranken und ihren Angehörigen soll ein Stück Normalität vermittelt werden, was im Krankenhaus oder zu Hause durch Überforderung der pflegenden Angehörigen oft nicht mehr gegeben ist. Laut Umfragen möchten etwa 90 Prozent aller Menschen zu Hause sterben. Tatsächlich sterben nach Schätzungen jedoch etwa 50 Prozent im Krankenhaus und weitere 20 Prozent im Pflegeheim. Hospize wollen eine menschenwürdige Alternative sein, wenn eine Krankenhausbehandlung nicht mehr gewollt wird oder aus medizinischer Sicht nicht erforderlich ist.

Die Brost-Stiftung hat sich mit diesen zentralen Fragen menschlicher Existenz nicht nur in einem Buchprojekt beschäftigt, sondern 2022 drei herausragende Palliativmedizinerinnen mit dem Brost-Ruhr Preis ausgezeichnet. Ihr Preisgeld in Höhe von 25.000 Euro lässt zum Beispiel Dr. Marianne Kloke der Evangelischen Hochschule Rheinland-Westfalen-Lippe in Bochum zur Finanzierung des Projektes „Palliative Care und Geriatrie – Förderung von Kooperation und Vernetzung bei der Begleitung alter Menschen in der letzten Lebensphase“ zukommen. Neben Kloke ehrte Professor Bodo Hombach (Vorstandsvorsitzender der Stiftung) in einem Festakt auch Dr. Ferya Banaz-Yasar sowie Dr. Nicole Selbach.

„Der Umgang mit sterbenden Menschen erfordert sehr viel Kraft, aber ich kann aus eigener Erfahrung sagen, dass ich jedesmal etwas für mich persönlich gewinne “

Brost-Ruhr Preisträgerin Dr. Ferya Banaz-Yasar

Als Wegbereiterin einer modernen Palliativmedizin in Deutschland erklärt Marianne Kloke im Interview, warum über die medizinische Behandlung und pflegerische Versorgung hinaus die soziale und spirituelle Begleitung sehr alter und schwerstkranker Menschen sowie das Management dieser Prozesse wichtig sind.

Marianne Kloke: „Im Bereich der Palliativmedizin ist umfangreiches wissenschaftlich gesichertes Fachwissen vorhanden. Aber es hapert noch immer am Verständnis für die notwendigen personellen, strukturellen und organisatorischen Vorbedingungen zur Erbringung qualifizierter Palliativversorgung. Das gilt leider sehr häufig gerade für die Verantwortungsträger im Gesundheitswesen allgemein und in den einzelnen Institutionen vor Ort. Deshalb gehen wir mit dem Projekt an die Hochschule, weil hier die künftigen Entscheider und Multiplikatoren aus verschiedenen Gesundheitsberufen studieren. So können Modelle für die notwendige Kooperation über Professions-, Organisations- und leistungsrechtliche Grenzen hinweg  entwickelt und eingeübt werden.

Wo liegt nach Ihrer Einschätzung der größte Veränderungsbedarf?

Marianne Kloke: „In den Köpfen der Verantwortlichen. Viele ÄrztInnen und Pflegefachpersonen setzen Palliativmedizin immer noch mit Sterbemedizin gleich. Sie schließen die Augen vor der hohen medizinischen, pflegerischen und interprofessionellen Kompetenz dieses Fachgebietes wie sie u.a. in den S3 Leitlinien Palliativmedizin festgeschrieben ist. 

Im klinischen Alltag wird z. B. selbstverständlich ein Urologe bei urologischen Problemen zugezogen während der Einbeziehung eines Palliativmediziners häufig eine Diskussion mit dem Patienten vorausgeht.  So kommt es zur Fortschreibung der Berührungsängste und Tabus letztendlich zu Lasten des Menschen mit einer schweren, rasch fortschreitenden und zum Tode führenden Erkrankung. Mehr als einmal begrüßte mich ein Patient dann mit den Worten: nun dann ist es jetzt wohl so weit. Wie viele Tage habe ich denn noch?“   

Stichwort Befragung des Betroffenen – wie wichtig ist eine Patientenverfügung?

Marianne Kloke: „Sie ist für mich ein zentraler Akt zur Wahrung der Menschenwürde. Dem Patienten wird die Sicherheit gegeben: Du bist selbstbestimmt bis zum Schluss! Es passiert nur, was Du willst. Entscheidend ist ein empathisches mit fachlicher und kommunikativer Kompetenz geführtes Gespräch, in dem der Patient auch seine Ängste artikulieren kann, etwa vor einem einsamen Tod oder qualvollem Ersticken. Ein solches Gespräch über die Behandlungswünsche zum Lebensende hin nimmt Angst und gibt Sicherheit für den Patienten, seine Angehörigen und auch für die behandelnden ÄrztInnen. „

Ärzte und Patienten sagen oft „Es ist noch nicht soweit“, wenn Palliativmedizin angesprochen wird. Wann ist der richtige Zeitpunkt?

Marianne Kloke: „Hier muss vielleicht etwas zwischen Tumor- und Nicht-Tumorpatienten unterschieden werden. Für den Krebspatienten wurde das Konzept der Frühen Integration, bei der Palliativmedizin und Onkologie gleichzeitig ab dem Augenblick der Feststellung der Nichtheilbarkeit durchgeführt werden, wissenschaftlich gesichert.

Bei Nicht-Tumorpatienten sind die Erkrankungsverläufe oft chronischer mit vielen Aufs und Abs. In frühen Stadien geht oft zunächst einfach darum, mit Erkrankten und Angehörigen die Möglichkeiten einer Palliativversorgung zu besprechen und ein verlässliches Begleitungsangebot auch für die letzte Lebensphase anzubahnen. In weiter fortgeschrittenen Stadien kommen dann Linderung von körperlichem und psychischen Leiden sowie existentieller Not immer mehr zum Tragen. Das Konzept der Early integration befindet sich für die fortschreitend und unheilbar kranken Nicht-Tumorpatienten noch in der Etablierung. Eine Ausnahme bildet hier vielleicht die ALS, hier sollte das Angebot einer Palliativversorgung bereits bei Diagnosestellung erfolgen.“