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Porträt: Kinderkrankenschwester Margarete Reimann

In der Reihe: Helden des Alltags Von Gila Lustiger   Essen. Wir haben an der Tür halt gemacht, vor dem zwei Meter langen Gang, der vom Kaiserschnitt-Operationssaal in die Neugeborenen-Intensivstation führt. „Stellen Sie sich einmal vor, Sie sehen, wie sich am Ende dieses Gangs fünf blau bekittelte Menschen über Ihr Kind beugen, das man Ihnen gerade entrissen hat, um es zu retten.“   Ich blicke über ein Bullauge in den OP-Saal zu einer Kranschwester hinüber. Sie sitzt auf einem Hocker und tippt etwas in ihr Handy, sie trägt den grünen Kittel des operierenden Personals. Und wirkt müde. Das Blut der Mutter auf dem gekachelten Boden ist noch nicht weggewischt worden. „Mutter und Kind sind wohlauf“, sagt Margarete Reimann, die meinen Blick erhascht hat. Sie sagt Kind. Nicht kleines Frühgeborenes, auch nicht krankes Neugeborenes.   Aber Margarete Reimann benutzt nicht den Jargon des Krankenhauses, das ist mir schon aufgefallen. Frauen mit Risikoschwangerschaft nennt sie Mamis. Die Frühchen auf der Station bei ihrem Vornamen. Margarete Reimann ist die einzige auf der Station, die Zivilkleidung trägt. „Wieso haben sie keinen blauen Kittel an? Sind sie denn nicht Intensiv-Krankenschwester?“, frage ich sie. Ich kenne mich in der Farb-Hierarchie der deutschen Krankenhäuser aus. Ich habe mir schon von ein paar Ärzten in grünen Kitteln versichern lassen, dass alles gut gehen wird. Bin schon in den blau bekittelten Armen von Intensiv-Schwestern aufgewacht. Habe schon einige weiß bekittelte Chefarztvisiten über mich ergehen lassen. Und natürlich freue ich mich mit den meist aus armen Ländern stammenden Hilfskräften in rosaroten Kitteln an, deren abenteuerliche Biographien ich erforsche.   Ich bin selbst ein Frühchen   Meine Mutter erwachte eines Nachts blutend. Mein Vater war auf Geschäftsreise und so stopfte sie sich zwei Kissen zwischen die Beine, nahm ein Taxi, bat den Fahrer,noch kurz an der Westend Synagoge in Frankfurt vorbeizufahren, schickte ein Stoßgebet an alle Mütter ihres Stammbaums und fuhr mich entbinden. Meine Mutter hatte eine Risikoschwangerschaft, ich bin eins dieser Frühchen, die Margarete Reimann, ehemalige Kinderkrankenschwester der Intensivstation, betreute, bevor sie die Elternberatung „Frühstart“ ins Leben rief. Das hört sich harmlos an. In Wirklichkeit ist es eine kleine Revolution.   Zwei entscheidende Meter   Allem Widerstand, ob man nur den Gehorsam verweigert oder sich zur Wehr setzt, geht die Erkenntnis voraus, dass etwas, so wie es ist, falsch ist. Was falsch war, erklärt mir Margarete Reimann, während wir an dem zwei Meter langen Gang stehen, der Intensivstation und OP-Saal verbindet. Einzigartig und viel gepriesen ist die konkrete Nähe zwischen den Stationen, die es ermöglicht, kranke Kinder ohne lange Transportwege zu betreuen. Und doch liegen zwischen der Entbindung der Mütter und der Pflege der Kinder nicht zwei Meter, sondern Welten. „Es ist nicht natürlich, dass eine Schwangerschaft frühzeitig beendet wird. Es ist nicht natürlich, dass das Kind von der Mutter getrennt wird und in einem Plastikkasten liegt. Und es ist nicht natürlich, dass ein Kind alleine liegt und die Mutter erst dreißig oder sechzig Minuten danach zum Kind kommt“, sagt Margarete Reimann.   Nähe der Eltern stärkt Bindung   Sie habe das nicht immer so gesehen, gesteht sie ein. Sie musste erst selbst gebären. Erst als Mutter hat sie gespürt, dass die Früh- und schwerst kranken Neugeborenen, die zu ihr in die Intensivstation getragen wurden, wieder zu ihren Müttern und Vätern gehörten, so schnell es nur ging. Zuvor sah Margarete Reimann Eltern am liebsten von hinten, wenn die Besucherzeit um war und sie die Intensivstation wieder verlassen mussten. Mütter und Väter, das waren für sie Menschen mit besorgten Gesichtern, Ängsten und vielen Fragen. Die nicht wussten, was ihre Kinder brauchten, um zu überleben. Heute denkt sie zwar immer noch, dass die Schwestern, was die medizinische und pflegerische Versorgung der winzigen Lebewesen angeht, die Expertinnen sind, jedoch weiß sie, „dass das, was eine Mutter oder ein Vater dem eigenen Kind geben kann, keine Maschine und kein fachliches Wissen aufholt.“   Der revolutionäre Weg   Anfang 2007 schreibt sie mit zwei Kolleginnen ein Konzept, macht mit allen wichtigen Menschen der Kinderklinik Termine. In einer Zeit des medizinisch-technischen Fortschritts, bittet sie darum, das Augenmerk nicht nur auf immer neue, nicht selten immer kostspieligere Diagnose- und Therapieverfahren zu richten, sondern auf die Linksliegengelassenen in diesem Drama: auf Mütter und Väter. Margarete Reimann fordert die Freistellung von gleich fünf Frühgeborenen-Schwestern, um Eltern zu Partnern in der Versorgung ihrer Kinder machen. Die Idee wird sofort gut angenommen und schnell umgesetzt. Oktober 2007 beginnt die Betreuung. Keiner stellt heute ernsthaft in Frage, dass man für die Versorgung der Frühchen die Eltern braucht. In vielen Studien ist mittlerweile erwiesen, dass die frühkindliche Bindung das Kind sein ganzes Leben lang tragen wird. „Wir dürfen diese Bindung, die ganz wichtig ist in den ersten Stunden, in den ersten Tagen, nicht durch einen stationären Aufenthalt zerstören“, sagt Margarete Reimann.   Technik ausblenden   50 bis 70 Frühchen, die ein Geburtsgewicht von unter 1500 Gramm haben und in der Regel jünger als 32 Schwangerschaftswochen sind, werden jährlich in der Station betreut, oft über Monate. „High-Risk-Frühchen“ nennt man sie. Wir bleiben an einem der dreizehn Inkubatoren stehen. Jedes Bett ist eine voll technisierte Welt für sich. Ob ich denn ein Frühchen, das unter einer roten Decke liegt, damit das starke Neonlicht den Kleinen nicht stört, begrüßen möchte. Ich weiß nicht so recht. Ich schiele auf die Beatmungsgeräte, Infusionen, Katheter, Schläuche, Kabel und Pumpen... Alle diese Geräte, die durch Sonden, Kanülen, Manschetten an das kleine Lebewesen dort unter der Decke angeschlossen sind, sind lebenswichtig. Herzschlag und -rhythmus, Blutdruck, Körpertemperatur, Venendruck, Hirndruck – alles wird gemessen. Es blinkt und piept ohne Unterlass.   „Ja“, sage ich und blicke auf ein Mädchen, so zart, so klein und so vollkommen.   Und wundere mich, dass ein Stofftier im Inkubator liegt.   „Früher lagen die Kinder nackt in diesen Kästen“, erklärt mir Margarete Reimann, „heute dürfen auch Kuscheltiere rein, und an den Wänden hängen  Bilder der größeren Geschwister.“ Und die ganzen Intensivapparate solle eine Mutter ausblenden: „Wenn sie in den Inkubator blickt, soll sie sehen, dass Nadine schon viele Haare hat. Und lange Finger. Sie solle nicht denken: Oh, sie hat eine Blutdruckmanschette am Arm und eine Sauerstoffsättigung am Fuß. Sondern wie sie aussieht, ob sie entspannt ist oder angespannt ...“   „Und wie bringt man eine Mutter, deren Tochter eine Sauerstoffsättigung am Fuß hat dazu, lange Fingerchen zu bewundern?“, will ich wissen.   „Durch Gespräche in Ruhe und ohne Zeiteinschränkung. Durch Zuhören, Dasein und An-die-Hand-Nehmen und begleiten. Durch Anleiten, Erklären, Beraten und, und, und...“, lautet die Antwort.   Von Anfang an umfassend betreut   Die Gespräche beginnen schon während der Schwangerschaft, wenn eine Komplikation festgestellt wird, und werden bis zur Entlassung und in den ersten Wochen danach fortgesetzt. Das Konzept ist so einfach wie alle guten Ideen. Die Eltern erhalten medizinische Informationen, werden durch die Räume geführt, über Stationsabläufe informiert, berühren die Kabel, Schläuche und Sonden, mit deren Hilfe die Kinder versorgt werden, stellen Fragen und reden immer wieder über ihre Befürchtungen und Zweifel, so lange, bis die Angst zwar nicht weicht, aber in den Hintergrund tritt.   „Heute“, sagt Margarete Reimann „lässt sich keine Mutter mehr rausschicken, wenn ihr Kind untersucht oder behandelt wird. Sie sagen: Ich kann das sehen, ich kann das ertragen und ich möchte dabei sein.“   Mehr als nötig und möglich   Ich lasse mir auch das „Känguruhen“ erklären. Gleich mehrmals am Tag werden die Winzlinge für etwa eine halbe bis eine Stunde auf die nackte Brust der Eltern gelegt. Verschiedenen Studien zufolge, erfahre ich, entwickeln sich Frühchen, die ihre Eltern spüren, schneller und haben seltener Atempausen. Und wie das Gefühl ist, sein Kind so nah bei sich zu haben, das entzieht sich jeder Beschreibung.   „Kann man denn ein Kind, das an Geräte angeschlossen ist, aus dem Inkubator holen?“, frage ich. „Man kann noch viel mehr“, erwidert Margarete Reimann und erzählt mir von einem kleinen persönlichen Erfolg.   Vor ein paar Tagen ist sie mit einer Mutter und ihrem Frühchen vor dem Gebäude spazieren gegangen, weil sie der Mutter irgendetwas hat bieten müssen. Die Entlassung ihres Babys ist immer wieder verschoben worden, und die Mutter ist kurz vor dem Zusammenbruch gewesen „Ich habe den Oberarzt gefragt ,und er hat seinen Segen gegeben. Eine Stunde, das ist nicht viel. Für die Mutter aber ein großes Geschenk, von dem sie noch Wochen wird zehren können.“ Margarete Reimann hat sich am Glück dieser Mutter gefreut. Sie hat sie angeschaut und gedacht: Ich habe dafür gesorgt, dass Dein Kind das erste Mal in seinem Leben frische Luft riecht und Du glücklich bist und wieder stark wirst. „Elternberaterinnen“, sagt sie, „werden oft von Müttern, Vätern oder Großeltern umarmt. Weil sie wissen, dass wir mehr machen als nötig, als möglich.“   Mittel zur Personalaufstockung fehlen Ich frage sie, was sie sich wünschen würde. Wir stehen am Eingang der Abteilung beim Spind – da, wo die Eltern tagtäglich ihre Kleider und ihren Schmuck ablegen, bevor sie sich desinfizieren und die Kittel anziehen, um zu ihren Kindern zu eilen. „Wir leben von Spenden“, sagt Margarete Reimann, „und haben jetzt nur eine volle Schwesternstelle, die sich drei Schwestern teilen.” Und dann seien da Mütter mit einer Risikoschwangerschaft, die vier, fünf, sogar sieben Wochen in der Frauenklinik liegen müssten. „Also”, sage ich „wenn Sie sich etwas wünschen könnten?” „Wenn ich nicht nur eine volle Stelle hätte, sondern zwei”, kommt sie ins Schwärmen. „Oder auch nur eine halbe...” Diese Frau ist in ihren Wünschen viel zu bescheiden, denke ich, ihr fehlt der große Überblick. Und dann begreife ich: Sie kann ihr Augenmerk nur auf den Einzelnen richten. Auf seine Sorgen, seine Befürchtungen, seine Bedürfnisse. Immer nur auf einen Menschen. Genau darin liegt ihre Größe.