Direkt zum Inhalt wechseln

Macron-Debatte! Lustiger gab die Nörglerin

Stadtschreiberin Ruhr sieht Europas Zukunft bei BAPP-Diskussion skeptisch Das Fragezeichen hinter dem Debattenthema hatten die meisten Zuhörer wohl schon zu Beginn des Abends innerlich gegen ein Ausrufezeichen getauscht. „Ein Jahr Macron – Hoffnungsträger für Frankreich und Europa?“ lautete die Überschrift der Podiumsdiskussion in der Bonner Akademie für Forschung und Lehre Praktischer Politik (BAPP). Die Gesprächsrunde versprach spannende Beiträge über jenen Mann, der gerade Donald Trump geküsst, sich zum Frontmann Europas aufgebaut und dafür vor einigen Tagen den Aachener Karlspreis erhalten hat. Zumal sich das von Michael Krons (Phoenix) moderierte Podium aus Kennern Frankreichs und seines politischen Alltags zusammensetzte: Dr. Claire Demesmay, Programmleiterin Frankreich bei der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik diskutierte mit Frédéric Petit, Abgeordneter der Französischen Nationalversammlung für die Auslandsfranzosen in Deutschland und Zentraleuropa. Daneben saßen Dr. Sascha Lehnartz, Chefkorrespondent von WeltN24 (bis 2014 Frankreichkorrespondent der WELT) sowie Gila Lustiger. Die Stadtschreiberin Ruhr lebt seit 1987 in Paris. Obwohl es um den gefeierten Präsidenten ihrer Wahlheimat ging, suchte Lustiger in der Debatte für sich die eher kritische Rolle. „Ich möchte heute Abend die kleine Nörglerin geben“, erklärte die Schriftstellerin. „Emanuel Macron eignet sich zugegeben wunderbar zur Projektionsfläche für vielfältigste Zukunftshoffnungen. Er ist jung, dynamisch, sieht gut aus, hat eine ausgesprochen attraktive Frau. Die Wahlen hat er jedoch nicht als Hoffnungsträger Europas gewonnen, sondern als Außenseiter und Newcomer. Weil die Wähler den zwei etablierten Parteien und der Politik im Allgemeinen misstrauten.“ „Macron ist der Luther der Politik“ Moll-Töne in einem Lobkonzert, das Vincent Muller, Französischer Generalkonsul in Düsseldorf, zur Einführung angestimmt hatte. „Marcron hat die Politik neu erfunden“, schwärmte er (möglicherweise nicht ganz frei von Ironie). „Die Auszeichnung mit dem Karlspreis ist gleichzusetzen mit einem Nobelpreis für Europa.“ Die Popularität seines aktuellen Chefs drängte ihn zu historischen Vergleichen. „500 Jahre nach der Reformation möchte ich sagen: Emanuel Macron ist der Luther der Politik...“ Mit einer Wertung traf der Generalkonsul allerdings ziemlich genau die Mehrheitsmeinung sowohl der Zuhörer als auch der sachkundigen Gesprächsrunde: „Macron hat Europa wieder ‚In’ gemacht!“. Was für Claire Demesmay gleichwohl eine große Herausforderung darstellt. „Der Präsident hat in Frankreich eine Reihe von Reformen, unter anderem des Arbeitsmarktes, angestoßen. Wie von seinem Land, hat er einen Plan für ein künftiges Europa, drängt auch in der EU auf einen Reformkurs. Beides hängt eng zusammen. Wenn er in Europa scheitert, wird das auch den Reformelan in Frankreich bremsen.“ Ein perfektes Stichwort zum Auftritt von „Nörglerin“ Lustiger: „Ich stelle mir im Alltag oft die Frage: Wie reformfähig sind die Franzosen überhaupt? Frankreich ist ein Land der Sozialromantiker; Veränderungen in der Arbeitswelt gehen ziemlich chaotisch voran. Wie man gerade am Versuch Macrons erkennt, die Privilegien der Mitarbeiter der staatlichen Eisenbahngesellschaft abzubauen.“ „Deutschland muss endlich in die Pötte kommen“ Das mochte Frédéric Petit so nicht stehen lassen: „Die gefundenen Reformlösungen werden von weiten Teilen der Bevölkerung akzeptiert. Aber gerade in Europa ist Macron auf starke Partner wie Deutschland angewiesen.“ Von hier komme jedoch noch wenig Rückenwind. Diese Einschätzung unterstützte Sascha Lehnartz: „Die deutsche Politik wirkt ein wenig überfordert von Marcrons Enthusiasmus. Bei soften Zielen wie Digitalisierung hat Deutschland Unterstützung zugesagt, ebenso bei Überlegungen für eine gemeinsame europäische Verteidigung. Aber es fehlt der Wille zur wirtschaftlichen Zusammenarbeit an Europa.“ Kanzlerin Angela Merkel müsse langsam klar artikulieren, wie denn ein gemeinsamer Plan für Europa aussehen solle. Mit seinem daraus abgeleiteten Appell sammelte er den größten Applaus des Abends aus dem Saal und auch vom Podium ein: „Deutschland muss endlich in die Pötte kommen!“ Die Zukunft Europas, so Lustigers skeptischer Blick in die Zukunft, hänge nicht allein vom deutsch-französischen Gestaltungswillen ab. „Europa ist, was die Migrationsfrage betrifft, in Westen und Osten gespalten. Polen, Ungarn und Tschechien halten sich nicht an ein Relocation-Programm der EU. Und hinsichtlich der Steuerung der Staatsschulden gibt es eine unversöhnliche Kluft zwischen dem Süden und Norden.“ Selbst in Deutschland würden Stimmen laut, die gegen einen Ausbau der Haftungsunion der Banken seien. „Ein Viktor Orbán kommt, obwohl der die Europäische Charta unterschrieben hat, mit einer europafeindlichen und antisemitischen Wahlkampagne durch. Und in Polen, Ungarn, der Slowakei und Tschechien hetzen führende Politiker gegen Medien. Schwule, Lesben und Transsexuelle werden laut einer Studie der EU-Grundrechteagentur in Ländern wie Litauen, Ungarn und Polen diskriminiert. “ Europa sei nicht nur ein Binnenmarkt, sondern eine Wertegemeinschaft. Die EU müsse diese Werte verteidigen oder, falls hinfällig, neu definieren. Vor allen Dingen müsse sich die politische Führung Gedanken darüber machen, warum in ganz Europa Populisten an Terrain gewinnen und die Volksparteien abdanken. Der Ausblick in die Zukunft bis zur Europawahl in einem Jahr fiel nicht bei allen Diskussionsteilnehmern derart skeptisch aus, aber vor allem bei der künftigen Rolle von Marcrons stärkstem Partner blieb das Fragezeichen: Was will Deutschland?