Direkt zum Inhalt wechseln

Gila Lustiger hält aufrüttelnde Rede vor KZ-Opfern

Gedenkveranstaltung zur Befreiung des Konzentrationslagers Ravensbrück durch die Rote Armee Der Satz von Schriftstellerin Ingeborg Bachmann findet in diesen Tagen einmal mehr auf erschreckende Weise Bestätigung im aktuellen Geschehen auf Deutschlands Straßen. Fast zeitgleich mit vielerorts mahnenden Gedenktagen an die Befreiung von Opfern des Nazi-Terrors aus deutschen Konzentrationslagern, werden Menschen ihres jüdischen Glaubens wegen öffentlich verprügelt. Solidaritätsveranstaltungen in Berlin-Neukölln für die Opfer müssen abgebrochen werden, weil sich die Teilnehmer nicht mehr sicher fühlen können...   Gila Lustiger, deren jüdischer Vater den Holocaust überlebte, sprach am Sonntag (22. April) bei einer Gedenkveranstaltung zur Befreiung des Konzentrationslagers Ravensbrück am 30. April 1945 durch die Rote Armee. Neben der Stadtschreiberin Ruhr würdigte Kulturstaatssekretärin Ulrike Gutheil beim Trauerakt die Gedenkstätte als zentralen Ort der Erinnerung im Land: "Hier wurden Menschen erniedrigt, ihrer Würde beraubt, unsagbar gequält und ermordet". Von 1939 bis 1945 war Ravensbrück das zentrale Frauen-Konzentrationslager des NS-Verbrecherregimes. Mehr als 130.000 Frauen und Kinder aus über 30 Ländern sowie 20.000 Männer und 1.200 weibliche Jugendliche wurden dorthin verschleppt. Viele von ihnen starben durch Hunger, Zwangsarbeit und Misshandlungen oder wurden bei medizinischen Experimenten ermordet. Im Rahmen der Aktion ‚14f13’ wurden Menschen umgebracht, die als behindert oder arbeitsunfähig galten. Auf den Todesmärschen nach der Evakuierung des Lagers Ende April 1945 starben noch einmal Tausende von Häftlingen. Die Rote Armee fand vor 73 Jahren nur noch 2.000 in Ravensbrück zurückgelassene Kranke vor.   GILA LUSTIGERS REDE IM ORIGINAL:   Es ist Frühling   Sehr geehrte Gäste und Ehrengäste aus aller Welt, sehr geehrte Kinder und Enkelkinder derjenigen, die hier interniert waren und gelitten haben, Bitte erlauben Sie mir, mich an die Überlebenden zu wenden. Sehr verehrte Überlebende, die Sie aus Deutschland, Polen, Russland und Frankreich hierher gereist sind. Ich habe mich in den letzten zwei Wochen in Ihr Leid hineingelesen. Oft musste ich die Dokumente beiseitelegen. Oft verließ mich der Mut. Ich wage mir kaum vorzustellen, welche Erinnerungen dieser Ort in Ihnen wachruft. Dass Sie heute hier sind, aller Strapazen zum Trotz ist mir ein Trost.   Dass ich von der Zwangsarbeit für die Rüstungsindustrie, die Sie, verehrte Überlebende, haben verrichten müssen, habe lesen können. Von dem Konzern Siemens & Halske, der hier „kostengünstig“  20 Werkshallen vor Ort hatte. Von dem „Industriehof“ mit Betrieben für Textil- und Lederverwertung. Von dem kleinen Männerlager. Dem „Jugendschutzlager“ Uckermark. Von den 12.000 Frauen aus dem aufständischen Warschau, die hierher verschleppt wurden. Von den Frauen aus der Résistance, die in der sogenannten Nacht-und-Nebel-Aktion deportiert wurden. Von den Transporten mit Jüdinnen aus Ungarn, der Slowakei, Tschechien, Polen, Österreich, Deutschland, Spanien, Schweden, Türkei, Dänemark und Holland. Von denen als “asozial"   eingewiesenen Frauen, denen Unzucht vorgeworfen wurde oder die als unangepasst galten. Von den Frauen, die Männer liebten, die im Jargon der Zeit "Rassenfeinde“ genannt wurden. Von dem Transport von Sinti und Roma, die mit ihren Kindern aus dem Burgenland hierher verschleppt wurden. Von der Sex-Zwangsarbeit. Von den medizinischen Versuchen an gesunden Polinnen. Von den Selektionen. Den Prügelstrafen ...    40.000 Polinnen, 25.000 Frauen aus der Sowjetunion, 22.000 Deutsche und Österreicherinnen, 9.000 ungarischen Jüdinnen, 8.000 Französinnen ...   Die Aufzählung ist unvollständig, und würde den Rahmen dieser Veranstaltung sprengen.   So viel Leid, solche Verzweiflung, solch ein Elend, so viel Entbehrung haben sich an jeder Ecke, in jedem Ritz, an jeder Wand dieses Ortes kondensiert, dass es mir Atemnot verschafft.   Aber lassen Sie mich zu meinem Anfangsgedanken zurückkehren. Dass wir heute von den von Ihnen ausgestandenen Qualen wissen, von dem Unrecht, das an Ihnen verübt wurde, war nicht vorgesehen. Denn kurz bevor die Sowjets Ravensbrück befreiten, versuchte die Lagerverwaltung alle Spuren hier begangener Verbrechen zu vernichten. Die Gaskammern, wie der Prügelbock wurden entfernt. Die Häftlingsakten verbrannt.   Es ist der akribischen Arbeit vieler Historiker geschuldet und der zahlreichen Zeitzeugenaussagen, dass wir heute etwas über die Shoa und die hier an Menschen begangenen Verbrechen haben in Erfahrung bringen können. Und ich sehe mit Beunruhigung, dass es heute Länder gibt, die sich ermächtigen eine souveräne Auseinandersetzung mit unserer Geschichte durch neue Gesetzgebungen zu beeinträchtigen.   Dieser Ort war ein Ort der Verleugnung. Und die Verleugnung fing gleich zu Beginn der Lagergeschichte an, mit der Dehumanisierung der Häftlinge. Ja, man hat Ihnen, sehr verehrte Überlebende des KZ Ravensbrück, Ihre Identität geraubt, Ihren Vor- und Nachnamen, Ihre Geschichte, jedoch nicht Ihre Zukunft, denn Sie sitzen ja heute hier, nicht Ihre Würde nicht Ihre Menschlichkeit.   Menschen wurden hierher deportiert. Menschen aus über 40 Nationen. Mit farbigen Dreiecken wurden sie gekennzeichnet. Ein Buchstabe innerhalb des Dreiecks klärte über ihre Nationalität auf.     Grün für vermeintliche Kriminelle. Rot für Widerstand. Violett für Bibelforscherinnen. Rosa für männliche Homosexuelle. Blau für Emigranten, die aus Deutschland geflüchtet waren. Schwarz für sogenannte Asoziale. Und der sogenannte Judenstern.     Gleich nachdem ich zugestimmt habe, hier auf dem Vorplatz der ehemaligen SS Kommandantur zu Ihnen, sehr verehrte Gäste aus aller Welt, zu sprechen, habe ich an einen Satz von Simone Weil, der französischen Philosophin und Aktivistin jüdischer Abstammung, denken müssen. Ich habe den Satz vor Jahren gelesen. Und er dient mir seither als Richtschnur für mein Verhalten:   Was man ergreift, schreibt sie, davon wird man erfasst. Wir wissen es alle. Wir haben alle schon in unserem täglichen Leben die Erfahrung gemacht: Das, worauf wir unsere Aufmerksamkeit richten, zu richten beschließen, genau das beeinflusst nicht nur unser Leben, es macht es in gewisser Weise auch aus.   Was man ergreift, davon wird man erfasst. Ich schaue heute Sie an, sehr verehrte Überlebende, nur Sie und Ihre Kinder und Enkelkinder, die heute hierhergekommen sind. Ich schaue Sie an, nur Sie, um an diesem Ort nicht zu verzagen. Ich schaue Sie an, weil ich mich von dem Leid, das hier aus allen Ecke zu uns spricht, nicht erfassen lassen will.  Ich schaue Sie an, weil Sie mich daran erinnern, dass man sich widersetzten muss, sofort. Dass man sich gegen die kleinen Rassismen des Alltags aufbäumen muss, sofort. Dass man es nicht zulassen darf, dass Juden in Deutschland verprügelt und in Frankreich gar gefoltert, vergewaltigt und getötet werden können, nur weil sie Juden sind. Antisemitismus ist ein ernstzunehmendes, gesamtgesellschaftliches Problem und sollte nicht nur uns, den Juden, überlassen werden. Dass man es nicht zulassen darf, dass Sinti und Roma in ihren Herkunftsländern immer noch keinen Zugang zu Bildung, Arbeit und medizinischer Versorgung haben. Dass man es nicht zulassen darf, wenn Menschen heute immer noch versklavt werden. Nach Rechnungen des Global Slavery Index wurden allein im Jahr 2016 weltweit 45 Millionen Menschen in 167 Ländern versklavt. Das Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen schätzt, dass 168 Millionen Kinder zwischen 5 und 14 Jahren zur Arbeit gezwungen werden.   Sehr verehrte Überlebende, Sie können die Bürde all dieser Ungerechtigkeiten nicht auf sich nehmen. Und sie sollen es auch nicht. Aber Sie können uns helfen uns daran zu erinnern, was geschehen kann in einem Klima von Rassismus, Ausgrenzung und Gleichgültigkeit.   Es ist Frühling und man möchte an diesen See, rudern oder schwimmen gehen. Man möchte sich ins Gras legen und in den blauen Himmel schauen. Man möchte sich von diesem Glückgefühl mitreißen lassen, das einen überkommt, wenn die ersten Sonnenstrahlen das Ende eines langen Winters ankündigen. Das KZ Ravensbrück wurde im April befreit. Und so stehen wir also heute hier auf dem Platz der ehemaligen SS Kommandantur, um der Befreiung zu gedenken und dem Leid und der Toten. Morgen werden wir in unseren Alltag zurückkehren, da, wo auch Frühling ist. Heute stehen wir hier, im Niemandsland und das einzige Licht, das uns erhellen und wärmen kann, geht von Ihnen aus, sehr verehrte Überlebende. Ich schaue Sie an, nur Sie, weil Sie heute hier angetreten sind, um uns zu beweisen, mit Ihrem Leben, mit Ihrer Anwesenheit, dass man nichtsdestotrotz leben, Familien gründen, Existenzen aufbauen, dem Alltag trotzen  und lieben kann.