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Keine Ahnung

Bei ihrem Stiftungstag am 14. September 2017 im Erich-Brost-Pavillon der Zeche Zollverein hatte die Brost-Stiftung Gelegenheit, ihre erste „Stadtschreiberin Ruhr“ geladenen Gästen vorzustellen. Gila Lustiger überraschte mit einem Grußwort, das sie mit „Keine Ahnung“ überschrieb. Ein erster Text, entstanden während der Anreise von Paris nach Essen. Ein erster Text, der zeigt, wie Gila Lustiger ihre Rolle als Stadtschreiberin sieht – nämlich jenseits der Standarderwartungen, abseits vom „darüber musst du schreiben, wenn du im Ruhrgebiet bist“. Sondern mittendrin in ihrer Attitüde, die Dinge vom Rand aus zu betrachten, den Blick auf Dinge zu richten, die uns entgehen würden. Selbst in der Schule sei sie bereits viel lieber der Fliege mit Blicken gefolgt als dem Lehrer. „Keine Ahnung Seit meine Freunde und Bekannte wissen, dass ich ins Ruhrgebiet fahre, bekomme ich Bücher zugeschickt. Das letzte heißt "Gebrauchsanweisung für das Ruhrgebiet."   Ich weiß nicht, warum alle glauben, mich sorgfältig in „den Geist“ des Ruhrgebiets einführen zu müssen, und ob das etwas über mich auszusagen hat oder über das Ruhrgebiet.   Vor drei Tagen fragte mich eine Freundin, ob ich über die AfD schreiben würde, schließlich hätte sie bei den Landtagswahlen in Gelsenkirchen 14,6 Prozent erreicht. In zwei Stadtteilen in Essen überschreite sie sogar die 20 Prozent. „Keine Ahnung“, gab ich zurück. Eine Bekannte meinte, dass ich unbedingt die Spuren des Attentäters Anis Amri nachverfolgen müsse. „Weißt Du, wann der in Nordrhein-Westfalen als Gefährder eingestuft worden ist? Haben die da nicht irgendeinen Fehler begangen?  Der hätte doch abgeschoben werden sollen, oder?“ „Keine Ahnung“, gab ich zurück.   „Wie viele Zechen gibt es eigentlich noch im Ruhrgebiet?“, fragte mich neulich mein Sohn beim Frühstück „Und wann soll die letzte geschlossen werden?“ „Keine Ahnung“, sagte ich, wie so oft zuvor.   Im Zug gestern nach Essen las ich schon mal vorsichtshalber „111 Orte im Ruhrgebiet, die man gesehen haben muss.“ Schließlich werde ich morgen Abend vorgestellt.   Die Journalistin, die mir ein paar Fragen stellen wird, hat mich gestern angerufen. Ob ich schon wisse, worüber ich schreiben wolle? Über die Geschichte der Juden? Die politische Lage?  Die Feinstaub- und Stickstoffdioxid-Immissionen? Das kulturelle Angebot?  Über Essen, Duisburg, Bochum, Oberhausen, Gelsenkirchen? Oder vielleicht doch über Mühlheim, denn schließlich wohne ich ja dort? „Wie wäre es, Du überraschst sie alle und schreibst über Fußball?“, meinte mein Freund. Vorhin, als ich im Hotelzimmer im Bett liegend noch einmal schnell in meinem Buch blätterte, dachte ich, erzähle ihnen doch morgen einfach etwas über die Wachszinshäuser in Hattingen. Nummer 78 in  „111 Orte, die man gesehen haben muss“. Die Wachszinshäuser in Hattingen sollen angeblich eine der schönsten Altstädte Deutschlands sein. Inmitten der circa 140 erhaltenen und restaurierten Fachwerkhäuser rund um die Kirche fühlt sich der Besucher... Nur, dass ich plötzlich wieder an die Kassiererin von Rossmann am Bahnhof in Essen denken musste. Sie hatte sehr schöne, stark getuschte blaue Augen, und als sich die Kundin vor mir in der Schlange darüber beschwerte, dass es jetzt schon wieder mit den Lebkuchen losginge, streifte sie mich mit diesem Blick, der besagte, dass sie sich das Genörgel, dass Weihnachten nun schon zur Sommerzeit beginne, den ganzen Tag über hatte anhören müssen.