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Kein gutes Wort fürs Ruhrgebiet

Foto:Lisa Roy (C) Heike Steinweg

Im BrostCast knüpft Autorin Lisa Roy an die „neue, junge Perspektive“ ihres Buches auf Nostalgie und Armut an. Konsequent und illusionslos.

Für diesen Gast müsste die Anmoderation des BrostCasts um zwei Adjektive erweitert werden. Im Gespräch mit Lisa Roy wird deutlich: Hier artikuliert sich nicht nur eine kluge und mutige Stimme des Ruhrgebiets, die Schriftstellerin beschreibt ihre frühere Heimat gleichzeitig konsequent und illusionslos. Folgerichtig ließe sich „optimistisch“ aus dem Eingangstext streichen…

Im Alter von zwei Jahren kam die gebürtige Leipzigerin nach Essen-Katernberg, ihre Mutter, promovierte Romanistin, war dem Ruf der Liebe gefolgt. Im Rückblick sagt Roy: „Ich wollte immer da weg.“ Und sie stellt schon zu Beginn der Unterhaltung mit Gastgeber Hajo Schumacher klar: „Zurückgehen? Eher nicht!“ Auch wenn bei der Entscheidung Schuldgefühle mitschwingen würden – davon später mehr.

Roy hat die Erinnerungen an den Essener Norden in einem hochgelobten Roman verarbeitet. Wie der Titel Keine gute Geschichte“ ahnen lässt, bleibt kaum ein gutes Haar an der Region ihrer Kindheit. Schumacher zitiert aus dem Buch: „…Das Senfgelb ist jetzt dreckige Eierschale, ansonsten alles wie früher. Diese Siedlung ist beständig in ihrer Beschissenheit – wie ein kleines afrikanisches Land, das nach Millionenzuschüssen noch genauso arm, korrupt und undemokratisch ist wie vorher…“

So wie sie in ihrem Debütroman konsequent „gegen den Mythos von einer klassenlosen Gesellschaft“ anschreibt, räumt Roy im BrostCast mit den Ruhrgebietslegenden auf.

Stichwort Essener Norden: „Katernberg ist betont schmucklos, und wenn geschmückt, dann hässlich.“

„Gut gemeint, scheiße gemacht“

Stichwort Bergmänner: „Die Zechen sind zu, man kann sich doch nicht noch 100 Jahre über das Malochertum definieren!“ In Wahrheit sei das Arbeitsethos ohnehin nicht gerade beispielhaft gewesen. „Die Leute fanden es normal, morgens zur Schicht zu gehen und dann den Rest des Tages in der Kneipe zu verbringen…“ Hören Sie einmal rein, in welcher Region Deutschlands nach Roys Wahrnehmung die „wahren“ Malocher zu Hause sind.

Stichwort Integration: „Aus meiner Kindheit speist sich die Erinnerung, dass die meisten Integrationsprojekte ignoriert wurden. Die Devise hieß: Man geht hier weg, wenn man kann.“

Im Buch klingt das noch gnadenloser: „…Hier und da ein gut gemeintes, scheiße gemachtes Kulturprojekt, das auf das grüne Ruhrgebiet oder die Geschichte des Bergbaus hinweisen sollte, von Zeitungen und Integrationsbeauftragten hochgelobt, von uns weitestgehend ignoriert…“

Gleichwohl fühlt sich die heutige Kölnerin mit dem Ruhrgebiet verbunden: „Ich fühle mich als Essenerin. Ohne Stolz, aber es fühlt sich an wie zu Hause, ob ich will oder nicht.“

Selbst das typische Ruhrgebietsidiom in der Sprache kehre immer wieder zurück, sobald sie mit ihrer besten Freundin aus Kindertagen zusammen ist – die lebt inzwischen in Berlin.

Die Vielzahl der im Sinne des Ruhrgebietes gut gemeinten Stichworte Schumachers nimmt Roy dennoch immer wieder als Vorlage für (durchaus konstruktive) Kritik.

Meine Mutter, die Außerirdische

Stichwort nachbarschaftlicher Zusammenhalt: „Die betrachte ich nicht als besondere Errungenschaft der Region. Man braucht die anderen Menschen eben mehr, wenn man weniger Geld hat. Wer in manchen Ecken des Ruhrgebietes krank wird, kann keinen Babysitter bezahlen oder die Putzfrau zum Einkaufen schicken.“

Stichwort Rollenbilder: „Ich dachte als Kind immer, meine Mutter käme von einem anderen Planeten. Als alleinerziehende Akademikerin, die noch arbeiten ging, war sie im Essener Norden so exotisch wie ein Papagei. Ich hatte oft das Gefühl, die anderen Frauen dachten: „Das arme Kind…“ Warum Lisa Roy glaubt, dass die Menschen im Revier teilweise stolz auf ihr prekäres Leben sind und sie sich als Kind genial fand – reinhören!

Was müsste an politischen Prozessen in Gang gesetzt werden, damit sich Alltag und Gesellschaft in vielen Ruhrgebietsregionen ändern? „Ich bin Autorin, ich kann nur Fragen aufwerfen. Für die Antworten bin ich nicht zuständig“, so Lisa Roy. Aber eine Chance sieht sie in einer stärkeren Durchmischung der Quartiere. „Es braucht Menschen in der Nachbarschaft mit anderen Lebensentwürfen und höherer Bildung. Die Alternativen vorleben, also zeigen, dass es möglich ist, Abitur zu machen und zu studieren. Man muss dem Beispiel nicht folgen, kann aber!“ Sie könnte eine solche Nachbarin werden – daher (siehe oben) die Schuldgefühle…

Die ganze Folge hier anhören - oder überall, wo es Podcasts gibt!

Alle Folgen des BrostCast finden Sie hier:

https://broststiftung.ruhr/brostcast-1-2/