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Gila Lustiger: „Das Ruhrgebiet muss sich von seiner Legende lösen“

Beim Besuch des Signal-Iduna-Parks ermuntert Stadtschreiberin Gila Lustiger vor allem Politiker, endlich nach vorne statt ständig zurück zu blicken.   2:0 gegen den HSV! Für den kritischen Betrachter ein „Arbeitssieg“ im ausverkauften Signal-Iduna-Park, für die überwiegende Mehrzahl der 81.360 Besucher ein Feiertag in Schwarz und Gelb. Mittendrin Gila Lustiger (54), die im Zuge ihres Aufenthaltes als erste Stadtschreiberin des Ruhrgebietes in einen bis dahin unbekannten Kosmos eintaucht. „Ich war noch nie in meinem Leben in einem Fußballstadion“, erzählt die Schriftstellerin. Mit einer kleinen Ausnahme, an die sie sich nur schemenhaft erinnert. „Bei der WM 1974 bin ich als Funkenmariechen mit anderen Kindern ins Frankfurter Waldstadion eingezogen...“   Was hat sie diesmal besonders beeindruckt?   Lustiger: „Die Menschenmassen! Die Faszination für den Fußball oder genauer für den eigenen Verein übertrifft alles, was man beispielsweise aus dem Kulturbetrieb kennt.“ Sehr persönlich ihr Blick VON aber vor allem HINTER die Tribüne. „Unvorstellbar, welche Mengen an Essen und Getränken hier aufgefahren und konsumiert werden. Der ganze VIP-Bereich wirkt absolut effizient organisiert, mit ständiger Präsenz der vielen Firmen, die das finanzieren. Mir war bewusst, das mit Leistungssport Geld generiert wird, die Effizienz hat mich dennoch erstaunt.“ Auch abseits der VIP-Tribüne könne niemand wirklich dem Konsum entgehen, weit über den Erwerb der Eintrittskarte hinaus. „Es hört ja nicht bei Bier und Bratwurst auf. Der Fanshop bietet Accessoires für ein Leben in Vereinsfarben. Das fängt mit BVB-Windeln und Schnuller an.“ Für Lustiger tritt der Sport hier stark in den Hintergrund, bei aller Emotionalität drängt sich ihr der Eindruck eines „effizient ökonomisch durchdeklinierten Unternehmens“ auf.   Wird sich der Stadionbesuch als Episode in ihrem neuen Roman wiederfinden, an dem sie während des Aufenthaltes in Mülheim/Ruhr arbeitet?   „Eher nicht, höchstens sehr peripher. Ich will nicht ausschließen, dass eine Figur des Romans einmal ins Stadion geht, eine Schlüsselszene wird es nicht“, so die preisgekrönte Autorin („Die Schuld der Anderen“). Sie hat die Recherchen weitgehend abgeschlossen, wird sich zeitnah ans Schreiben machen. „Das Ruhrgebiet und seine Menschen will ich sehr stark einbeziehen. Ich bin ja hergekommen, um über das Revier zu schreiben.“   Welchen Blick auf die Region hat sie bei vielen Beobachtungen und Begegnungen gewonnen?   Lustiger: „Die Menschen hier leben sehr stark im Bewusstsein ihrer Geschichte und des Images des Ruhrgebietes. Manchmal scheint mir, sie sind mehr mit der Frage beschäftigt, wie sie auf andere wirken, als mit ihrer eigenen Zukunft. Sie sind wie diese junge Frau, die wissen will, wie sie auf andere wirkt, statt zu leben. Manchmal möchte ich sagen: einfach loslassen! Denn das hemmt die gesamte Entwicklung. Es interessiert heute wirklich niemanden mehr, dass das Revier einmal die industrielle Herzkammer Deutschlands war.“   Ein Entwicklungshemmnis sind für Lustiger viele Lokalpolitiker, denen der ständige Blick auf die eigene Geschichte das Erkennen der Realität vernebelt.   „Das Ruhrgebiet hat riesige Flächen zur Gestaltung frei. Es bildet einen gut vernetzten Großraum, der logistisch herausragend angebunden ist. Wenn die Kunstszene in Berlin beispielsweise mangels Werkstätten nach Alternativen sucht, müsste man diese aus den Ruhrgebietskommunen aktiv anbieten.“ Gleiches gelte für Firmen aller Art. Die in Paris lebende Autorin verweist auf französische Erfolge: „Bei der Bekämpfung von Armut in den Vorstädten haben Politiker Firmenansiedlungen mit Befreiung von Gewerbesteuer unterstützt. Wer Armut bekämpfen will, muss Wohlstand anlocken. Entscheidend ist: Man muss mal anfangen!“   Im Gegensatz zu lethargischer Selbstreflektion vor allem im Politikbetrieb hat Gila Lustiger seit ihrer Ankunft im September 2017 viele Menschen getroffen, die aktiv Nachbarschaft und Gesellschaft gestalten. „Viele von ihnen werden immer meine Freunde bleiben. Im Ruhrgebiet lebt ein Menschenschlag, den ich sonst nirgendwo angetroffen habe. Eine von ihnen ist die Ärztin Anne Rauhut, Mutter von vier Söhnen. Sie hält dreimal die Woche Sprechstunden für Armutsmigranten ab, die nicht kranken- oder sozialversichert sind“, weil sie sich der Privilegien bewusst sei, die sie dank ihrer Ausbildung genießen könne. Und der Menschen in ihrem Umfeld, die nicht so privilegiert sind. „Wer die Armut sehen will, der sieht sie auch“, so Lustiger. „Und dann zählen die Menschen, die konkret etwas tun, einfach anpacken statt nur zu jammern.“