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Geschockt vom blauen Himmel an der Ruhr

Der neue Metropolenschreiber Ingo Schulze bekam die ersten Eindrücke der Region von Mitschülern. Im Interview erzählt er auch, wie sein schwarz-gelbes Fußballherz in den Westen abwanderte

07. Oktober 2022

In der ersten Oktoberwoche liest Ingo Schulze (60) noch im Deutschen Historischen Museum aus seinem aktuellen Essayband „Der Amerikaner, der den Kolumbus zuerst entdeckte“, dann wird der Träger des Alfred-Döblin-Förderpreises sowie des Ernst-Willner-Preises als neuer Metropolenschreiber Ruhr in Mülheim einziehen.

„Erstmal komme ich allein, ich bin der einzige »Freischaffende« in der Familie, die anderen müssen ja in Berlin arbeiten beziehungsweise an die Uni. Aber es haben sich schon etliche Besucher angesagt“, so Schulze im Interview. „Ich weiß noch nicht, ob ich mich darüber freuen soll. Ehrlich gesagt, habe ich die Hoffnung, selbst etwas in Ruhe arbeiten zu können. Ich kenne in Mülheim und Umgebung deutlich weniger Menschen als in Berlin. Um sich auf eine Stadt und Region einzulassen, ist es gut, wenn man erst mal allein loszieht. Mal sehen, ob und wenn ja wie schnell ich zum Reiseführer werde.“

Haben Ihre Vorgänger als Metropolenschreiber schon erzählt, was Sie erwartet?

Schulze: „Das erste Mal habe ich durch Gila Lustiger davon erfahren. Sie kam mit dem Fahrrad zu einer Lesung von mir nach Düsseldorf. Ich war überrascht, wieso sie mit dem Fahrrad kam. Sie hatte ihr Mülheimer Fahrrad mit in den Zug genommen. Ich fragte sie, was sie denn bewogen habe, für ein Jahr Paris gegen Mülheim zu tauschen? Ich weiß die Antworten jetzt nicht mehr genau, aber für sie war es ein ganz anderes Leben, ganz andere Menschen, ganz andere Zusammenhänge. Natürlich spielte das Stipendium ebenfalls eine Rolle. Auch Wolfram Eilenberger hatte mir mehrfach von Mülheim erzählt.“

Wie möchten Sie sich die Region „erschließen“?

Schulze: „Das weiß ich noch gar nicht. Seit 1995 mein erstes Buch erschienen ist, hatte ich Lesungen im Ruhrgebiet. Und wenn das jetzt nicht anbiedernd klingt, würde ich sagen, ich mag die Mentalität, die Offenheit, die Direktheit, das habe ich über die Jahre hinweg immer wieder erlebt. So wie ein Buch in seinen Leserinnen und Lesern existiert, existiert eine Region in dem, was ihre Bewohner tun und erzählen. Und da werde ich versuchen hinzusehen und hoffentlich erzählt mir auch die eine oder der andere etwas.

Was löst der Begriff Ruhrgebiet bei Ihnen aus?

Schulze: „Das lernten wir ja schon in Dresden in der Schule, das Ruhrgebiet als das industrielle Herz von Deutschland. Es war 1979 oder 1980, da fuhr der Dresdner Kreuzchor zu einer Konzertreise auch ins Ruhrgebiet. In meiner Klasse waren einige Kruzianer, und am meisten geschockt waren sie vom blauen Himmel über dem Ruhrgebiet. Ich konnte das ja nicht überprüfen, aber mir hat sich das, wie Sie sehen, bis heute eingeprägt.“

Sind Sie Fußballfan?

Schulze: „Leider ja. Im Vergleich zu Kollegen, die sich nicht für Fußball interessieren, habe ich einen echten Nachteil, weil die anderen viel mehr Zeit zum Lesen und Schreiben oder wozu auch immer haben. Ich war natürlich Dynamo Dresden-Fan, aber als die Dresdner dann von der ersten Bundesliga in die Regionalliga abstiegen, waren sie damals – das muss so um 1995 gewesen sein – kaum noch im Fernsehen aufzufinden. Und nun muss ich bekennen, wanderte mein Herz mit Matthias Sammer zu den anderen schwarz-gelben, die spielten ja Mitte der Neunziger unter Hitzfeld sehr schön – und hatten auch Erfolg. Ich weiß nicht, wie oft ich mir das Ricken-Tor zum 3:1 gegen Juve angesehen habe. Und natürlich leide ich unentwegt, lächerlich, aber ich kann´s nicht ändern: In Köln verloren, am Samstag nun, jetzt sollen sie die Bayern endlich auch mal wieder schlagen!“

Worauf freuen Sie sich besonders?

Schulze: „Auf diese ungewöhnliche Situation. Ich habe 1993 als Zeitungsredakteur in St. Petersburg gearbeitet, war 1996 als Schriftsteller ein halbes Jahr in New York, auch mal ein Jahr in Rom. Das ist jetzt der vierte längere Aufenthalt. Die Welt sieht ja vom Ruhrgebiet aus ganz anders aus als von Berlin, allein die Nähe zu Holland und Belgien, aber auch innerhalb Deutschlands.“

Haben Sie schon Ideen, wie Sie die Erlebnisse im Ruhrgebiet künstlerisch umsetzen wollen?

Schulze: „Man kann ja leider (oder zum Glück) nicht sagen: Ich will jetzt auf der Stelle eine Idee haben! Und ich glaube, dass ich nach einem halben Jahr zu wenig über diesen Westen weiß, um gleich eine Erzählung zu schreiben. Deshalb will ich es mit einem Journal versuchen, einem Tagebuch, das mich zum genaueren Beobachten zwingt – ein Ostler im Westen. Es muss immer etwas Zeit vergehen, bis die Eindrücke so in einem angekommen sind, dass man daraus etwas machen kann.“