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Ein Festival der Stimmen

©Kandalowski/Gieseler

Drei Generationen der schauspielernden Thalbach-Dynastie sowie ein gutgelaunt glänzender Thomas Quasthoff machten lit.RUHR-Gala zum Erlebnis Sie hätten auch aus dem Essener Telefonbuch vortragen können – das Publikum hätte genauso gebannt gelauscht und sich am Ende zum stehenden Beifall erhoben... Dank der Vorleserinnen Katharina, Anna und Nellie Thalbach, untermalt und getragen von einem virtuosen Thomas Quasthoff im Jazzmodus, stand die große Gala der lit.RUHR in der Essener Philharmonie ganz im Zeichen des gesprochenen (und gesungenen) Wortes. „Ein Festival der Stimmen“, wie es Moderator Knut Elstermann ergriffen zusammenfasste. „Die bucklige Verwandtschaft“ lautete das Motto des Abends, Traudl Bünger hatte dafür Texte bekannter Autoren zusammengestellt, in deren Mittelpunkt Familienerlebnisse beschrieben werden. Erzählungen über „einen Haufen Menschen, die man sich nicht ausgesucht hat, für die man Feste ausrichtet und Botengänge organisiert“. Was ist Familie, heißt es im Programm der lit.RUHR (u.a. gefördert von der Brost-Stiftung) weiter: „Ein Hort des Friedens, ein Kraftzentrum, ein Lebenssinn – oder ein Fluch, mit dem man bei der Geburt unschuldig beladen wurde?“. Wie Willy Brandt vom Fahrrad fiel Oma Katharina, Tochter/Mama Anna und Tochter/Enkelin Nellie schienen jedenfalls große Freude am Familientreffen auf der Bühne zu haben. Der gemeinsame Auftritt, so Katharina, sei aktuell die „einzige Chance, die Familie mal zu sehen“. Das Thema „Verwandtschaft“ war also in vielerlei Hinsicht perfekt besetzt. Für einen Abend voller Lachen, Melancholie und Gänsehautgefühl im gut gefüllten großen Saal der Philharmonie. Oder um es im Stil von Joe Brainards Kultroman „Ich erinnere mich“ (aus dem auch gelesen wurde) zu beschreiben: Ich erinnere mich... ...an die Jugenderinnerungen von Matthias Brandt, gelesen von Anna Thalbach. Brandt beschreibt eine am Ende scheiternde Fahrradtour mit seinem Bundeskanzler-Vater Willy und Herbert Wehner. Geplant zur Aussöhnung und Annäherung der im Dauerclinch befindlichen SPD-Legenden. Selten wurde ein profaner Fahrradsturz („mein Vater stürzte nicht, er kenterte“) derart wort-reich beschrieben (und an diesem Abend gestenreich vorgetragen) wie in Matthias Brandts Buch „Raumpatrouille“. Vom kindlichen Selbstvorwurf begleitet: „Ich hätte besser auf ihn aufpassen müssen.“ Ich erinnere mich... ...an Katharina Thalbach, die das Terror-Baby aus Alice Munros Roman „Der Traum meiner Mutter“ mit gleicher Hingabe und Perfektion zum Leben erweckte wie die vom Schicksal mit einem schwulen Sohn gebeutelte Mutter aus Larry Kramers Roman „Schwuchteln“. Manche Familien haben mehr Glück als andere Ich erinnere mich... ...wie Nellie Thalbach einem fast die Tränen in die Augen trieb, als sie eine Episode aus „Vom Ende der Einsamkeit“ von Benedict Wells vorträgt. Vom anderen Flussufer beobachten die Kinder, wie gegenüber ein kleiner Mischlingshund ertrinkt. Ausgerechnet in diesem Augenblick hatten sich die Eltern zu einem Spaziergang von den Kindern entfernt. Die altkluge Erkenntnis des jugendlichen Ich-Erzählers: „Manchmal verändert ein Ereignis von einem Augenblick zum nächsten ein ganzes Leben. Und manche Familien haben einfach mehr Glück im Leben als andere.“ Ich erinnere mich... ...an die begnadete Stimme von Thomas Quasthoff, die Jazz-Klassiker zum Gänsehaut-Erlebnis gestaltete. Von Frank Chastenier kongenial am Flügel begleitet. „Sometimes I feel like a motherless child“ wurde für die lit.RUHR-Besucher zum exklusiven Premierenerlebnis – Quasthoff hatte den Gospelsong aus dunklen Sklavenzeiten der USA erstmals vor Publikum gesungen. Das beste Vorlese-Trio der Welt Ich erinnere mich... ...dass Funny van Dannen nach der Pause noch hereinschneite. Der in Holland geborene Liedermacher und Schriftsteller beschreibt ein feuchtfröhliches Familienfest. Politisch maximal unkorrekt die Ansichten einzelner Protagonisten („Alle Lehrer sind Arschlöcher...“), maximal unterhaltend in der individuellen Aufarbeitung ihrer Familiengeschichte („Hat sich Opa nicht auch tot gesoffen?“ -  „Nein, der hatte eine schwache Leber...“). Besser kann man die Lust auf Literatur eigentlich nicht wecken, begeistert schlug Moderator Knut Elstermann am Ende vor, den in diesem Jahr nicht vergebenen Nobelpreis für Literatur alternativ an das beste „Vorleserinnen-Trio der Welt“ zu vergeben. Das Publikum stimmte mit den Händen dazu ab, verabschiedete das Entertainer-Sixpack mit stehendem Applaus.