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Das blaue Wunder

Prof. Dr. Uli Paetzel, © EGLV, Catrin Moritz

Im BrostCast erklärt Prof. Dr. Uli Paetzel, wie die erfolgreiche Emscher-Renaturierung bei der Renovierung Deutschlands helfen kann 

Die von Hajo Schumacher beschriebene Szene passt als Quizfrage in ein Ratespiel für Deutschlandkenner – Kategorie schwierig. Zum Auftakt von Folge 3 der dritten BrostCast-Staffel erinnert der Moderator an eine Begegnung seines Gastes Prof. Dr. Uli Paetzel mit Bundeskanzler Olaf Scholz: „Wir sehen auf den Fotos den Bundeskanzler und weitere Personen mit Rebstöcken in der Hand, im Hintergrund eine malerische Auenlandschaft.“ Das „Wo“ löst Schumacher selbst auf - „bei Castrop-Rauxel“, die Beantwortung der Frage „Wie kam der Kanzler auf den Sandhaufen?“ überlässt er Paetzel… 

…der als Vorsitzender der Emschergenossenschaft erklärt: „Wenn man ein Mammutprojekt wie die Renaturierung der Emscher nach über 30 Jahren Bauzeit und einem Volumen von mehr als 5,5 Milliarden Euro erfolgreich beendet, überlegt man sich, wie das gebührend gefeiert werden kann. Wir hatten im Kanzleramt rechtzeitig angefragt und konnten Olaf Scholz für den Festakt gewinnen.“ In dessen Verlauf mitten im Ruhrgebiet Weißwein-Rebstöcke angepflanzt wurden! 

Das überaus unterhaltende Gespräch, eine Mischung aus Heimatkunde, Geologie und Politwissenschaft für Fortgeschrittene, ließe sich im Quizmodus weiter zusammenfassen. Wussten Sie, welch wohlklingenden Namen die Emscher in historischer Vorzeit trug, bevor sie von den Ruhrgebietsmenschen abfällig „Köttelbecke“ getauft wurde? Oder warum nur im Revier Fäkalien und Industrieabfälle überirdisch entsorgt wurden, während ringsum in der Welt unterirdische Kanalsysteme entstanden? Paetzel erklärt: „Durch den intensiven Bergbau war der Boden teilweise bis zu 30 Meter abgesackt. Damit fehlte für einen unterirdischen Kanal das nötige Gefälle.“ 

Unterirdische Abwasserautobahn 

Also wurden Gräben gezogen und mit Beton ummantelt, die Älteren werden sich erinnern, was darin alles stinkend herumschwamm. Bis Ende der 1980er Jahre, mit Blick auf das absehbare Ende des Steinkohlebergbaus und die damit verbundenen Bodensenkungen, der Plan zum Bau eines modernen Kanalsystems reifte. Dessen erfolgreichen Abschluss Paetzel seit 2018 verantwortlich begleitet. 

In mehr als 400 Einzelprojekten wurde über eine Strecke von 436 Kilometern bis zu 40 Meter tief gebuddelt. „Wir haben den Bürgern sehr viel zugemutet“, so Paetzel, der von 2004 bis 2016 Bürgermeister der Stadt Herten war. „Aber dank des positiven Commitments konnten wir eine unterirdische Abwasserautobahn vollenden. Und gleichzeitig an der Emscher große Flächen als Auenlandschaften und Rückhaltebecken für Hochwasser gestalten.“  

Inzwischen siedelten dort mehr als 1000 Tierarten, viele auf der „Roten Liste“ als vom Aussterben bedroht ausgewiesen wie der Kiebitz oder seltene Blaulibellen. Übrigens war der Weg dorthin mit einigen tierischen Problemen gepflastert. Hören Sie einmal rein, wie die Emschergenossenschaft teure Koi-Karpfen eines Baustellenanwohners kurzzeitig umsiedeln musste.  

Klimawandel und Hitzetote 

Schumacher beschreibt den erfolgreichen Abschluss des gigantischen Projektes als „blaues Wunder“, beobachtbar nicht nur in der neu entstandenen Natur. Paetzel: „Es gab in 30 Jahren nicht eine Klage oder Bürgerinitiative gegen den Bau. Und der vorgegebene Kostenrahmen wurde ziemlich exakt eingehalten.“ Mit Blick auf aktuelle Baumaßnahmen in Deutschland tatsächlich wundersam… 

Der studierte Soziologe Paetzel sieht Land und Region aber großen Herausforderungen gegenüber, vor allem mit Blick auf den Klimawandel. Es werde mehr Dürreperioden und Starkregenereignisse geben, Wassermanagement spiele eine zentrale Rolle nicht nur mit Blick auf Hochwassergefahr. „Wir haben reichlich Wasser, leider oft an der falschen Stelle. Dazu trägt auch die ständig wachsende Versieglung der Flächen bei, die harte Böden erzeugt, die das Wasser nicht mehr aufnehmen können.“ Sein Plan dagegen: die „Schwammstadt“. Was er darunter versteht und warum wir künftig mit vielen Hitzetoten in Deutschland rechnen müssen? Reinhören – überall wo es Podcasts gibt! 

So würde das Revier absaufen 

Um das Quiz rund ums Revier und sein Wasser weiterzuspielen: Was würde passieren, wenn die Emschergenossenschaft (1800 Mitarbeiter) nicht rund um die Uhr weiter in über 400 Pumpwerken das Grubenwasser abpumpen würde? Paetzel: „Wir würden 52-mal den Baldeneysee produzieren.“ Die Folge: Über Jahre könnte der Wasserspiegel steigen, Teile von Gelsenkirchen, Hamm, Dortmund, Duisburg oder Oberhausen gingen unter. 

Diesen Trend beobachtet Paetzel auch in der deutschen Infrastruktur. „Im neoliberalen Sparwahn der letzten Jahrzehnte sind Straßen, Brücken und Wege marode geworden, jeder zweite Bahnkilometer ist sanierungsbedürftig. Die Kommunen können das längst nicht mehr abarbeiten.“ Hier könnte das „Emscher-Wunder“ durchaus als Blaupause helfen. Paetzel: „Es braucht überkommunale Institutionen wie die Emschergenossenschaft, die übrigens nicht profitorientiert arbeitet, um unter Einbeziehung aller Partikularinteressen solche Großprojekte managen zu können.“  

Schumachers finale Quizfrage, nicht frei von Augenzwinkern: „Was könnte eine Ruhrverkehrsgenossenschaft in diesem Zusammenhang an Fortschritt gestalten…?!“ 

Ein BrostCast mit Bildungsanspruch, launig und mit reichlich Input für das gepflegte Tischgespräch. Aufmerksame Zuhörer könnten etwas zum traditionellen Weinanbau im Ruhrgebiet sowie dem Jakobsweg des Fußballs erzählen. Oder welche Autotypen durch den unterirdischen Abwasserkanal passen… 

Diese und alle anderen BrostCast-Folgen finden Sie unter https://broststiftung.ruhr/brostcast-1-2/ und überall, wo es Podcasts gibt!