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Begegnung mit Frau Ruhrgebiet

Anke Johannsen entlockt Lucas Vogelsang im lit.Ruhr-Talk, welche Spuren das Stadtschreiber-Jahr bei ihm hinterlassen hat

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Im Magazin „Ruhr Gebiete“, das Lucas Vogelsang (34) zum Abschluss seiner Stadtschreiber-Zeit auf der lit.RUHR vorstellte, steht auf Seite 91 die Geschichte „Herr Glück auf“. Sie beschreibt den Alltag eines Schaffners im Rhein-Ruhr-Express, der sich zum Schutz vor Anfeindungen im Privatbereich den Phantasienamen „Herr Glück auf“ zulegt. Überträgt man die Pointe der Erzählung auf Anke Johannsen (38), müsste die Musikerin den selbstgewählten Namen „Frau Ruhrgebiet“ auf dem Schild am Revers tragen.

Gemeinsam mit Johannsen diskutierte Vogelsang auf dem Podium der Zeche Zollverein die Frage „Wie geht Ruhrgebiet?“. Ein in mehrfacher Hinsicht spannender, bisweilen emotionaler, Dialog.

 

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„Die Geschichten von Lucas Vogelsang sind Druckbetankung Ruhrgebiet“

Anke Johannsen

 

Auch über Johannsen gibt es eine Geschichte im von der Brost-Stiftung finanzierten Magazin (Seite 110). Sie beschreibt, wie die in Siegburg geborene Pianistin und Komponistin in Duisburg ihr aktuelles Zuhause fand. Eine etwas andere Ruhrgebietsbiographie, überschrieben mit Textzeilen des Liedes „Schon allein für den Mond“, in dem die Sängerin ihre Liebeserklärung an Duisburg tief ins Herz der Zuhörer senkt. „Was macht Heimat wohl zu dem was es ist? Es ist der Ort, den man aus der Ferne vermisst. Ich bin hier bei mir.“

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„Auch die Menschen an der Ruhr empfinden eine heimliche Zärtlichkeit der nüchternen Art. Hier muss niemand Grandiosität behaupten, um Normalität zu verbrämen.“

Prof. Bodo Hombach, Vorstand der Brost-Stiftung, in der Einführung zum Magazin „Ruhr Gebiete“

 

An diesem Freitagabend offenbarte die Künstlerin aber vor allem ihr Talent, mit anderen Menschen auf zugewandte Art ins (kluge) Gespräch zu kommen. So flogen zwischen den Fußballfans Johannsen (MSV Duisburg) und Vogelsang (Hertha BSC Berlin) verbal die Bälle hin und her, unentschieden am Ende die Anzahl der persönlichen Bekenntnisse, die Eine(r) dem Anderen entlocken konnte. Gewonnen haben die Zuhörer – nicht nur wegen der differenzierten Beschreibung des Phänomens Ruhrgebiet.

„Das Ruhrgebiet ist ein Ort, wo die Menschen nach vorne leben“, glaubt Johannsen. „Aber es ist nur in der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit zu erzählen, in all seinen Brüchen. Es gibt Ecken in Bochum und Essen, wo man jetzt noch einen Film aus dem 50er Jahren drehen könnte“, ergänzt Vogelsang.

 

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„Ich fuhr einmal mit einem Menschen im Aufzug. „Wie geht´s?“, fragte er. „Gut“, sagte ich. Eine kleine Stille später fragte er zurück: Und wie geht´s dir wirklich?“ – Vielleicht war das eine Art Lucas Vogelsang, incognito, sozusagen.“

Prof. Bodo Hombach

 

Übereinstimmung herrscht in der Beschreibung gesellschaftlicher Sprachlosigkeit, die auch Künstler herausfordert, eine Sprache zu finden, differenziert darzustellen und einzuordnen. Vogelsang: „Es ist wichtig, Dinge zu benennen. Wenn es in einem Stadtteil eine Überfremdung gibt, muss man das auch offen sagen. Nur Transparenz schafft Glaubwürdigkeit.“ In einer Zeit von fehlender Begegnung, Ghettoisierung und Parallelgesellschaften müsse es den einzelnen Gruppen der Gesellschaft wieder gelingen, so Johannsen, miteinander ins Gespräch zu kommen. Sie selbst unterstützt dieses Ziel tatkräftig, wie nicht nur die Geschichte im Stadtschreiber-Magazin erzählt.

„Duisburg hat mir beigebracht, was Heimat ist. Das trifft für das ganze Ruhrgebiet zu. Ich kenne vieles noch nicht, vieles, in das ich mich noch verlieben kann“, stellt Anke Johannsen dennoch als Schlussfazit fest. Und auch Lucas Vogelsang lässt die Region nicht mehr los: „Ich bin oft gefragt worden, ob das Wort Heimat einen Plural haben könnte oder nicht. Nach meinem Jahr in Mülheim muss ich sagen: Ich bin überzeugter Berliner, jetzt habe ich aber zwei Heimaten.“

P.S. Die treffendste Antwort zur Überschrift des Abends lieferte, von Johannsen erzählt, der Fahrer der sie gebracht hatte. „Wie geht Ruhrgebiet?“, hatte sie ihn gefragt. Antwort: „Locker aus der Hüfte...“