»Erkundungen über Tage«
»Erkundungen über Tage«
Die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung kam zu ihrer diesjährigen Frühjahrstagung vom 11. bis 14. April nach Essen. Ein Beitrag von unserem ehemaligen Metropolenschreiber Ingo Schulze.
2020 und 2021 verhinderte gleich zweimal nacheinander Corona samt der entsprechenden Schutzmaßnahmen die Absicht der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, ihre Frühjahrstagung in Essen abzuhalten. Während die Herbsttagungen stets in Darmstadt, am Sitz der Akademie, mit der Verleihung der Akademie-Preise (darunter auch der Georg-Büchner-Preis) abgehalten werden, finden die Frühjahrstagungen im steten Wechsel entweder an einem jeweils anderen Ort in Deutschland oder im Ausland statt.
Da wir im vergangenen Jahr in Ljubljana/Slowenien getagt hatten, jenem Land, das sich wenige Monate später als Gastland auf der Frankfurter Buchmesse präsentieren konnte, griffen wir in diesem Jahr die früheren Pläne auf und konnten nun im dritten Anlauf endlich nach Essen kommen, wo uns mit dem Kulturwissenschaftlichen Institut (KWI), dem Museum Folkwang und der Alten Synagoge unsere Kooperationspartner ihre Häuser öffneten. Zu den Unterstützern der Tagung zählte dankenswerterweise auch die Brost-Stiftung.
Für mich war es schöner Zufall, dass ich nun als ehemaliger Metropolschreiber Ruhr mit meinem Buch »Zu Gast im Westen – Aufzeichnungen aus dem Ruhrgebiet« dorthin zurückkehren konnte. Natürlich ist es unmöglich, in vier Tagen das Ruhrgebiet auch nur flüchtig erfassen zu wollen. Trotzdem war es mir wichtig, dass wir als Akademie den Versuch unternahmen, neben der Besichtigung der bekannten kulturellen Leuchttürme auch etwas soziale Bodenhaftung zu gewinnen. So standen am 12. April gleich drei Angebote zur Auswahl: Die erste Fahrt führte nach Duisburg-Marxloh in die Gesamtgrundschule Sandstraße, in der das Klavierfestival Ruhr schon seit ca. 15 Jahren aktiv ist. Mich hatten die Erzählungen und der Unterricht des dortigen Rektors Klaus Hagge beeindruckt, ebenso die Arbeit der Tanzpädagogin Petra Jebavi wie die Arbeit des Musikwissenschaftlers Tobias Bleek, dem Education-Beauftragten des Klavierfestivals Ruhr. Die Kinder in Marxloh, von denen die wenigstens zu Hause Deutsch sprechen, erlernen dank des gemeinsamen Musizierens Strukturen (gemeinsames Beginnen, man muss seinen Platz und seinen Part kennen, auf die anderen achten, im selben Rhythmus bleiben etc.), die ihnen zuvor kaum oder gar nicht vermittelt worden sind.Die zweite Tour ging im Bus mit Frank Richter, Polizeipräsident a. D. von Essen, durch seine Stadt. Es war wohl eine der ungewöhnlicheren Essener Stadtrundfahrten, da Frank Richter von seinem Herkommen und seinen Erfahrungen als Polizist sprach.
Die zweite Tour ging im Bus mit Frank Richter, Polizeipräsident a. D. von Essen, durch seine Stadt. Es war wohl eine der ungewöhnlicheren Essener Stadtrundfahrten, da Frank Richter von seinem Herkommen und seinen Erfahrungen als Polizist sprach.
Ich selbst begleitete die dritte Gruppe nach Gelsenkirchen, das heißt nach Schalke, wo uns Olivier Kruschinski von der Kirche St. Joseph (deren Glasfenster sogar einen Heiligen mit einem Fußball zeigen) über das Grillo-Denkmal zum Schalker Markt und schließlich weiter bis zur »Kampfbahn Glückauf« führte, die bis 1973 das (Bundesliga-)Stadion von Schalke 04 gewesen ist. Olivier versteht es, auch denjenigen, die noch nie im Ruhrgebiet waren, ein Gefühl für das Selbstverständnis, die Traditionen und den Alltag in Schalke jetzt und damals zu geben. Zugleich räumt er mit jenen Mythen über die Kohleförderung im Revier auf, die die gefährliche und krankmachende Schufterei verklären und verfälschen.
Das Programm der Akademie war recht dicht und reichte von Lesungen und Gesprächen, Vorträgen im Kulturwissenschaftlichen Institut und im Museum Folkwang bis hin zu einem Abend in der Alten Synagoge mit Beiträgen von ausländischen Mitgliedern der Akademie zu Antisemitismus und Rassismus nach dem 7. Oktober 2023.
Für mich waren die Tage in Essen eine schöne Fortsetzung meines früheren Aufenthalts im Ruhrgebiet. Im Oktober habe ich Einladungen zu Lesungen in Kettwig, Essen und Duisburg. Insofern wird der Gast im Westen vielleicht nicht zu einem Dauergast, aber immerhin zu einem, der sehr gern und gar nicht so selten wiederkommt. Ingo Schulze
Näheres zu den Essener Veranstaltungen der Akademie findet man unter dem Stichwort »Tagungen« auf www.deutscheakademie.de.